Literaturnobelpreisverleihung 2020: Die Nobel Lecture von Louise Glück
Im intimen Zwiegespräch mit William Blake und Emily Dickinson: Die Literaturnobelpreisrede der US-Lyrikerin Louise Glück.
Es braucht nicht viel Phantasie für die Vorstellung, dass es der amerikanischen Dichterin Louise Glück ganz gelegen kam, diese Woche aus bekannten Gründen nicht nach Stockholm reisen zu müssen. Die Verleihung der Nobelpreise im Stockholmer Konzerthaus findet an diesem Donnerstag digital statt.
Die Literaturnobelpreismedaille bekam Glück von der Schwedischen Akademie bei sich zuhause in Cambridge, Massachusetts überreicht, in ihrem Garten, dem Anschein nach bei ziemlicher Kälte, wie ihr Mantel und der mit Schnee bedeckte Rasen beweisen.
Louise Glück ist keine Freundin großer öffentlicher Auftritte. Das bestätigt sie in ihrer Nobel Lecture, die sie nicht vor einer Kamera gehalten hat und nur ins Netz stellen ließ. Darin spricht sie davon, dass ihr das öffentliche Leben suspekt sei, weil dieses „die Präzision durch die Verallgemeinerung“ ausradiere und „Aufrichtigkeit durch Teilwahrheiten“ ersetze.
Glück zum Nobelpreis: "Das Licht war zu hell, das Ausmaß zu groß"
Und sie bekennt, am Morgen des 8. Oktober, als sie den Anruf aus Schweden erhielt, Panik gespürt zu haben: „Das Licht war zu hell. Das Ausmaß zu groß.“
Glück schreibt in ihrer Lecture, sich immer zu den Poemen hingezogen gefühlt zu haben, die von einer intimen Auswahl, von intimen Absprachen bestimmt werden, von Gedichten, die den Hörer oder die Leserin als „Mitverschwörer“ entscheidend miteinbeziehen. So wie bei Emily Dickinson: „I’m Nobody! Who are you?/Are you Nobody, too/Then there’s a pair of us!/Don’t tell!...“. Oder auch in dem „Love Song of J. Alfred Prufrock" von T. S. Eliot:„Lass uns dann gehen, du und ich/Wenn der Abend gegen den Himmel verteilt ist/Wie ein Patient auf einem Tisch verkleidet…“
Obwohl es eine kurze Nobel Lecture von nicht einmal fünf Seiten ist, entfaltet Louise Glück gleichermaßen berührend wie vielsagend ihre Poetologie als Dichterin, erzählt sie von ihren Anfängen und lebenslangen Einflüssen.
Es beginnt damit, wie sie schon im Alter von fünf oder sechs Jahren für sich einen Wettbewerb über das beste Gedicht der Welt veranstaltet. Die Finalisten seien Stephen Foster mit „Swanee River“ und William Blake „The Little Black Boy“ gewesen.
"Dickinson hatte mich gewählt, mich erkannt"
Blake gewann, wohl weil er sie mit dem Haus ihrer Großmutter aufs Innigste verband und sie dort einen Band mit Blakes „Songs der Unschuld und Erfahrung“ fand. Noch mehr aber, weil Blake durch seinen „little black boy“ direkt zu ihr sprach. Weil sie schon als Kind fühlte, dass es wahr war, was der Junge sagt, „sein sterblicher Körper eine helle, reine Seele“ enthält.
Als Teenager dann habe sie „am leidenschaftlichsten“ Emily Dickinson gelesen, spät in der Nacht, auf dem Wohnzimmersofa: „Dickinson hatte mich gewählt, mich erkannt, wie ich da auf dem Sofa saß. Wir waren etwas Besonderes, verbunden in der Unsichtbarkeit, was nur für uns eine Tatsache war, was wir uns gegenseitig bestätigten. In der Welt waren wir niemand“.
Davon hat Glück immer noch etwas, nach einer gewissen Unsichtbarkeit sehnt sie sich wohl auch als 77-jährige, zu vielen Ehren gekommene Dichterin manchmal zurück. Ihre Arbeit versteht sie als intensive Zwiesprache mit ihren Leserinnen und Lesern. Diese wüssten Tiefe und eine intime, private Stimme zu schätzen und kämen immer einzeln, „einer nach dem anderen“.
Ob es die Schwedische Akademie gezielt beabsichtigt hat oder nicht (und nicht bloß von ihren Problemen ablenken wollte): Mit Glück hat sie, wie auch diese Nobel Lecture beweist, eine ideale Wahl getroffen in einer Zeit, in der Rückzug und Innerlichkeit das Gebot der Stunde sind.