Louise Glück erhält den Literaturnobelpreis: Die winterliche Gärtnerin
Zwischen Sinnlichkeit und existenzieller Sinnlosigkeit: Die amerikanische Dichterin Louise Glück erhält den begehrtesten Preis der literarischen Welt.
Habemus poetriam. Wir haben eine echte Dichterin – noch dazu eine, mit der niemand gerechnet hatte. Man muss schon bis ins Jahr 1996 zurückgehen, um mit der Polin Wislawa Szymborska die letzte Kollegin der Amerikanerin Louise Glück zu finden. Ihr verleiht die Schwedische Akademie nun den diesjährigen Literaturnobelpreis, und zwar „für ihre unverwechselbare poetische Stimme, die mit strenger Schönheit die individuelle Existenz universell macht“.
In den lyrischen Wettbüros hätte man wahrscheinlich eher auf die mondäne Jorie Graham, auf Susan Howe oder Ann Lauterbach gesetzt. Sie alle aber sind bei allzu schneller Lektüre auf eine Weise sperrig, die man der 1943 als Enkelin ungarisch-jüdischer Einwanderer geborenen Louise Glück nun gar nicht nachsagen kann. Bis man in die unheimlichen Tiefen ihrer Dichtung starrt und sich fragt, welche Kräfte unterhalb der unschuldigen Oberfläche wirken.
Eine besonders treffende Charakterisierung ihrer Kunst fand der amerikanische Kritiker Adam Plunkett. Glück, so schrieb er in der „New Republic“ über ihre 2012 erschienenen „Collected Poems“ (Farrar, Strauss & Giroux), sei eine der wenigen Schriftstellerinnen, denen es gelinge, Wasser umstandslos in Blut zu verwandeln.
Atmosphärische Verdunklung
Tatsächlich mischt sich in die sprachliche Transparenz ihrer Gedichte etwas atmosphärisch Opakes, das bis zur völligen Verdunklung reichen kann. Im Fall von „The Drowned Children“ (Die ertrunkenen Kinder) entfachte es regelrechte Kontroversen, ob sie mit ihren Zeilen Kindern nicht Gewalt antue. So beginnt das umstrittene Gedicht: „You see, they have no judgment. / So it is natural that they should drown, / first the ice taking them in / and then, all winter“. Aus dem Stegreif übersetzt: „Siehst du, sie haben kein Urteil. / Also ist es natürlich, dass sie ertrinken, / während erst das Eis sie verschluckt / und dann der ganze Winter“.
Dagegen ist das Auftaktgedicht ihrer Sammlung „Averno“ mit dem Titel „The Night Migrations“ (Die nächtlichen Wanderzüge) geradezu harmlos. Ulrike Draesner gebührt das Verdienst, „Averno“ und den Band „Wilde Iris“ für den Luchterhand Verlag schon vor über zehn Jahren mit großem Geschick übersetzt zu haben. Seitdem hat man hierzulande, wo sich nie mehr als ein Flüstern regte, von Louise Glück, die in den USA zahllose renommierte Preise, einen National Book Award und einen Pulitzer-Preis eingeschlossen, nichts mehr gehört.
Wie in den nur drei Strophen der „nächtlichen Wanderzüge“ der Weg von der Feier der sinnlichen Wahrnehmung über die Melancholie ihrer Endlichkeit bis in die Imagination eines Totenreichs führt, dem selbst der Blick zurück ins Lebendige verwehrt bleiben musss, ist dennoch Louise Glück pur: „Dies ist der Augenblick, in dem du / die roten Beeren der Eberesche wiedersiehst, / und am dunklen Himmel / die Vögel beim nächtlichen Wanderzug. // Es bedrückt mich zu denken, / dass die Toten sie nicht sehen - / diese Dinge, die uns selbstverständlich sind, / sie entschwinden. // Was wird die Seele dann tun, um sich zu trösten? / Ich sage mir, vielleicht braucht sie diese Freuden nicht mehr; / vielleicht ist es einfach genug, nicht zu sein, / so schwer vorzustellen das auch ist.“
Grundsäulen der amerikanischen Poesie
Die amerikanische Dichtung ruht auf zwei Gründungsfiguren. Die eine ist Walt Whitman, der mit kräftiger Stimme und musikalischer Verve weit ausgreifende Formen in freien Rhythmen schuf, wie sie die „Leaves of Grass“ auszeichnen. Die andere ist Emily Dickinson, die in kleinen, übersichtlichen, den Reim nicht scheuenden Formen die schwierigsten Themen mit oft trügerischer Eingängigkeit verhandelte: die Gottesidee und das Gehirn, das sie ausspinnt, oder das Bewusstsein und seine Abwesenheit im Tod.
Beide verbindet eine Leidenschaft für die Natur und deren Beschwörung, doch sie sind einander nie begegnet. Dickinson führte im Hause ihres Vaters in Amherst, Massachusetts, ein einzelgängerisches Dasein. Und während Whitman nichts von Dickinson lesen konnte, weil sie zu Lebzeiten nur eine Handvoll Gedichte veröffentlichte, hatte sie zu Whitmans Gedichten in der Bibliothek ihres ansonsten büchernärrischen Vaters wohl nicht einmal Zugang: Sie galten ihm als obszön.
Unter diesen Dioskuren gehört Louise Glück, auch wenn ihr der Reim fremd blieb, unbedingt auf die Seite von Emily Dickinson. Das ist sicher auch eine Geschlechterfrage. Vor allem aber hat es mit einer Haltung zu tun, die sich nicht der Welt und ihren politischen Geschäften in die Arme wirft, sondern sowohl aus der Distanz zum Getriebe wie aus dem Innersten der eigenen Seele die Dinge zu ergründen sucht.
Dazu kommen intime Kenntnisse der griechischen Mythologie, die sie aber nicht bildungshuberisch ausbreitet, sondern dazu einsetzt, sich der Tatsache zu vergewissern, dass es trotz der Einzigartigkeit jeder menschlichen Erfahrung Präfigurationen gibt, in denen man die eigenen Fährnisse wiedererkennt. Das wiederum führt zu der ebenso oft angestellten wie widerlegten Beobachtung, dass Glück ein „confessional poet“ sei, also jemand, der hemmungslos Ich sagt und den eigenen Lebensstoff ausbeutet.
Vereinzelung und Vereinsamung
Die Bezeichnung knüpft sich seit den 1950er Jahren an Sylvia Plath und, mehr noch, an Robert Lowell, den lebenslangen Brieffreund von Elizabeth Bishop, deren narrativer Klarheit sie in vielem teilt. Und ja: Louise Glück ist eine Dichterin der Traumata, des Begehrens, der Angst, der Vereinzelung und Vereinsamung. Nichts aber an dem, was sie schreibt, ist blinde Herzensergießung: Es ist mühsam gebändigte Emotion, aus der das Allgemeingültige ihrer Verse kommt.
Glück, die ein enges Verhältnis zur Psychoanalyse pflegt, weiß genau, was es heißt, zerstörerische Energien zu kanalisieren. Man kann ihre Texte auf Biografisches beziehen, die jugendliche Magersucht und die beiden schwierigen, bald geschiedenen Ehen. Doch die Verwandlung ist offensichtlich, und dass sie in ihren Texten einen Wesenskern berührt, an den sie in der sprachlichen Vermittlung zugleich nicht heranreicht, macht das literarische Kippmoment von Nähe und Distanz in ihren Gedichten aus.
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Das Autobiografische entzündet auch eher das Konstruktive ihrer Dichtung. So lebt der Band „Wilde Iris“ von einer wunderbaren Dreistimmigkeit: dem Gespräch der Blumen mit dem Gärtner, den Worten des dichtenden Gärtners und einer Gottesfigur, die diese Schöpfung überschaut. Passend zum Literaturnobelpreis gibt es in „Averno“ ein Gedicht mit der Überschrift „Oktober“.
„Ist es wieder Winter“, beginnt es, „ist es wieder kalt, / rutschte Frank nicht eben aus auf dem Eis, / genas er nicht, wurden die Frühlingssamen nicht ausgebracht, // war nicht die Nacht vorbei, / flutete nicht das schmelzende Eis die engen Gossen“. Der zusehends sanftere Ton, den Louise Glücks Gedichte, zuletzt in dem Band „Faithful and Virtuous Night“ (2014), angenommen haben, hat allen Grund, jetzt, spät in ihrem Leben, noch einmal sanfter zu werden.