24-Stunden-Webcams gegen die Lockdown-Langeweile: Die besten, absurdesten und nutzlosesten Webcam-Livestreams
Tiger-OPs und Nacktmulle stalken, Lichter in Texas an- und ausschalten: Livestreams zeigen die Welt aus überraschenden Perspektiven. Eine Sammlung.
Auf der Shibuya-Kreuzung in Tokyo springen die Ampeln auf Rot, Menschen eilen über die Straße. Dann setzt sich eine Horde schwarzer Taxis in Bewegung und füllt die Kreuzung binnen Sekunden. An den Rändern der Straße sammeln sich Fußgänger, Reklametafeln an den Hochhäusern blinken.
Es ist Februar 2021, 21 Uhr Ortszeit in Japan. Trotz Pandemie blicke ich auf das Treiben an der berühmten Kreuzung. Sekunden später atme ich auf einem verschneiten Berggipfel durch und nehme schon Anlauf ins nächste Abenteuer in einem Wildkatzen-Operationssaal, der nur einen Klick weiter liegt.
Wer sagt, dass Reisen nicht auch während einer globalen Pandemie möglich sein sollen, ersatzweise zumindest, am heimischen Bildschirm? Möglich machen solche Expeditionen Live-Webcams. Auf der ganzen Welt unterhalten Institutionen, Einrichtungen und Privatleute Kameras, die ins Internet streamen, was auch immer vor ihre Linsen kommt. Manche wollen dokumentieren, manche unterhalten, andere sind schlicht absurd.
In der Corona-Pandemie filmen sie weiter – und erhalten neue Relevanz. Denn dank der Streams kann man im Lockdown zumindest irgendwo live dabei sein, wenn auch nur digital. Gelingt die Tiger-OP? (Ja.) Taucht auf der Shibuya-Kreuzung nicht doch mal jemand ohne Mund-Nasen-Schutz vorm Gesicht auf? (Ja, nach etwa fünf Minuten.)
Dem Monster von Loch Ness nachstellen
Endlich ist mal wieder unklar, was im nächsten Moment passieren wird, endlich löst Spannung über vielleicht nie Gesehenes die Lockdown-Langeweile ab. Die Webcam-Streifzüge lassen sich flexibel an den Grad der eigenen Abenteuerlust anpassen. Zuversichtliche können ihr Glück am schottischen Loch Ness versuchen – auf lochness.co.uk kann jeder nach dem Monster fahnden.
Nordlichter in Kanada beobachten
Etwas aussichtsreicher ist es, Nordlichtern nachzustellen. Dafür unterhält etwa die kanadische Weltraumbehörde (Canadian Space Agency) eine Webcam im nordwestkanadischen Yellowknife. Mit ein bisschen Glück kann bequem vom Sofa aus Polarlichter beobachten.
Braunbären, Elefanten, Seekühe, verschneite Berggipfel
Für manche mögen sich solche Webcam-Abenteuer wie dröger Ersatz für echte Erlebnisse anhören. Aber sie haben auch unbestreitbare Vorzüge: Wer mit Live-Webcams durch die Welt reist, muss sich weder wegen CO2-Emissionen grämen, noch muss er sich für einen Teil der Welt entscheiden. Braunbären in Alaska sind nur einen Klick entfernt von einem Wasserloch in Südafrika, Seekühen in den USA und – Wetterkameras sei Dank – den verschneiten Alpen.
Wer den Abbey-Road-Zebrastreifen überquert, landet im Internet
Nicht nur Tiere kommen ungefragt vor die Kameras. Wer in London über die Abbey-Road-Kreuzung geht, wird gefilmt. Natürlich gibt es Menschen, die sich zu Hause filmen lassen, die Grenze zum Voyeurismus ist fließend.
Ein Trucker nimmt die Zuschauer mit nach Kalifornien
Trucker „Big Rig Steve“ filmt seine Dienstfahrten mit dem Lkw. Am Donnerstag ist er um neun Uhr Ortszeit auf einem sonnigen Highway in Los Angeles unterwegs, um Ware abzuholen. "Ich fahre auf der rechten Spur", sagt er zu seinem Livestream-Publikum.
Warum nicht mal Lichter in einem texanischen Haus per Klick an- und ausschalten?
Auf die Spitze getrieben hat das private Livestreaming der Texaner Paul Mathis. Seit 1997 können Internetnutzer auf www.drivemeinsane.com bunte Lampen in seinem Zimmer nach Belieben ein- und ausschalten, ein Klick reicht. Wer eine Nachricht in ein Textfeld schreibt, sieht sie ein paar Sekunden später über einen in Mathis’ Zimmer hängenden Bildschirm flackern.
Er wohnt tatsächlich dort, von Zeit zu Zeit läuft er durchs Bild. "Die Lichter stören mich nicht mehr", schreibt Mathis auf seiner Website. Rund 10.000 Leute besuchen die Seite pro Tag.
Die erste Webcam zeigte eine Kaffeemaschine, am längsten in Betrieb ist wohl die "San Francisco Fog Cam"
Bis zu interaktiven Projekten wie diesen war es ein weiter Weg: Die erste Webcam der Welt zeigte zwischen 1991 und 2001 den Füllstand einer Kaffeemaschine in Cambridge. Als älteste durchgehend streamende Webcam, die noch in Betrieb ist, gilt die "San Francisco Fog Cam". Sie zeigt den Campus der San Francisco State University. In Berlin gibt es unter anderem eine Webcam, die über das Rote Rathaus wacht.
Alle 10 Jahre ein Tropfen: Die wohl langweiligste Webcam
Der langweiligste Stream verfolgt das sogenannte „Pitch Drop Experiment“ – ein Langzeitexperiment der Universität Queensland, das das Tropfverhalten von Pech untersucht. Seit 1927 läuft es, erst neun Tropfen des zähen Stoffs sind bisher aus dem Behälter getropft. Leider verpasste die Webcam wegen eines technischen Defekts einen der beiden Tropfen, die seit ihrer Inbetriebnahme fielen. In rund acht Jahren hat sie die nächste Chance.
Wölfe, Flughunde, bayerische Bienen und "Tiger King"-Darsteller
Unangefochtene Stars der Webcam-Welt sind Tiere. Allein die US-Website www.explore.org, betrieben von der Annenberg Foundation, versammelt 167 Livestreams aus Reservaten, Zoos und ähnlichen Einrichtungen. Seit Beginn der Pandemie verzeichnen sie erhöhten Zulauf: Um 80 Prozent sei der Traffic laut der „Washington Post“ gestiegen.
Eine Bildschirmsafari hat unterschiedliche Erfolgsaussichten: Die Wolfsgehege-Kamera des „International Wolf Center“ in Minnesota ist für Geduldige. Umso aufregender, wenn irgendwann zwei weiße Wölfe mit heraushängenden Zungen zielstrebig durchs Sichtfeld traben.
Weiter südlich, in Florida, lassen sich mit etwas Glück Goldkronen-Flughunde beim Sonnenbaden beobachten. Kopfüber hängen die Fledermäuse von ihrem Käfigdach und wackeln mit den Ohren. Wer aber Pech hat, starrt in einen leeren Käfig. Praktischerweise gestatten viele Streams ihren Nutzern, ein paar Stunden in die vielleicht handlungsreichere Vergangenheit zurückzuspulen.
Wer trotzdem auf Nummer sicher gehen will, kann Haustiere beobachten. Auf explore.org gibt es Welpen-Cams, eine Schildkröten-Kamera sowie die Aufnahmen von bayerischen Honigbienen. Und auch das Karlsruher Naturkundemuseum unterhält eine Unterwasserkamera.
Und dann gibt es noch einen Zoo der besonderen Art: "Big Cat Rescue" in Florida, berühmt durch die Auftritte ihrer Besitzerin Carol Baskin in der Netflix-Serie "Tiger King", unterhält gleich mehrere Livecams auf explore.org.
Wer die Serie gesehen hat, weiß: Auch hier kann jederzeit Unvorhergesehenes passieren. Bis dahin kann man Tigern beim Hin- und Herlaufen in ihren Käfigen zusehen und gelegentlich live übertragenen Wildkatzen-Operationen beiwohnen.
Nacktmulle scheinen die Kamera zu mögen, Fledermäuse vielleicht ein wenig zu sehr
Besonders unbeeindruckt von der potenziellen Aufmerksamkeit zeigen sich übrigens die Nacktmulle des Smithsonian National Zoo in Washington, D.C.: Allzu gern krabbeln se durch die ihnen bereitgestellten transparenten Röhren und vergnügen sich in einer Kokosnussschale. Manchmal wird es sogar spannend bis gruselig - etwa, wenn die Nager sich gegenseitig in die Schwänze zu beißen versuchen (zum Glück erfolglos).
Nicht auf alle Webcams ist das ganze Jahr über Verlass: Die Linsen können verregnen oder vereisen. In New Hampshire steht eine mysteriöse Kamera, die Füchse verspricht, aber seit Längerem nichts als Tiefschnee zeigt. Von Fuchsspuren im Schnee ist keine Spur. Und im britischen Essex wartet derzeit eine Fledermaus-Kamera auf Reparatur, da die Tiere sie mit Exkrementen bedeckt haben. "Leider haben die Fledermäuse die Box dieses Jahr zu sehr genossen", heißt es auf der Website.