Hongkong lässt Tiananmen-Mahnmal verschwinden: Chinesische Geschichte, entsorgt im Frachtcontainer
Die Hong Kong University entfernt ein Mahnmal für die Opfer des Tiananmen-Blutbads. Überraschend? Kaum. Aber nun gelten endgültig Pekings Regeln. Ein Kommentar.
Drei Tage nach einer sogenannten Wahl in Hongkong, bei der ausschließlich sogenannte Patrioten kandidieren durften, ist gleichsam das erste Gesetz verabschiedet worden, ungeschrieben, unjuristisch, unmissverständlich: Eine Zensur findet statt. Das Massaker vom Tiananmen-Platz ist nie geschehen. Deng Xiaoping ließ 1989 nicht die Demokratiebewegung niederknüppeln. Es rollten keine Panzer gegen Studierende. Es starben nicht hunderte bis tausende Chinesen auf den Straßen Pekings. Und was nicht geschehen ist, braucht auch kein Mahnmal.
Mehr als zwei Jahrzehnte stand die „Säule der Schande“ des Künstlers Jens Galschiøt auf dem Campus der University of Hong Kong. Der Däne hatte seine Skulptur 1997 den Opfern der blutigen Protestniederschlagung von 1989 gewidmet, eine acht Meter hohe Groteske aus stumm schreienden Gesichtern und sich windenden, miteinander verschmelzenden Körpern. Die Anmutung von Hölle, Haut und Menschenfleisch verstört – wie die Geschichte selbst.
Chinas Führung nutzt die Weihnachtszeit, um Aufmerksamkeit zu vermeiden
In der Nacht zum Donnerstag ist sie in einem Frachtcontainer verschwunden, entsorgt in Nacht und Nebel im opportunen Zeitfenster der Hochschulferien. Der Campus-Bereich, auf dem die Säule gestanden hatte, war abgesperrt, blickdicht verhangen und mit Sicherheitskräften bemannt worden. Bauarbeiter rückten an, Zeugen und Lokalmedien berichteten von Bohr- und Sägegeräuschen. Vor Sonnenaufgang war das Kunstwerk weg.
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Chinas Staatsführung nutzt für Maßnahmen gegen Regimekritiker traditionell gern die Weihnachtszeit, um internationale Aufmerksamkeit zu vermeiden. Der Schriftsteller und Dissident Liu Xiaobo etwa wurde 2009 am ersten Weihnachtsfeiertag verurteilt. Redaktionen sind in diesen Tagen dünn besetzt, Korrespondenten im Heimaturlaub.
Schon im Oktober hatte die Universität die Entfernung der „Säule der Schande“ beschlossen und zur Begründung etwas von „rechtlichen Empfehlungen“ und „Risikobewertung“ gemurmelt, als gehe es um einen morschen Baum. Jens Galschiøt, der betonte, dass die Säule sein Privateigentum und 1,2 Millionen Euro wert sei, versuchte vergeblich, sich gegen die erwartbare Demolierung zu wehren. In einer Stellungnahme schrieb er Mittwochnacht, die nicht mit ihm abgesprochene Aktion zeige, dass Hongkong „ein brutaler Ort ohne Gesetze und Regeln“ geworden sei.
Ungeduldig, bockig wie ein Kindkaiser
Schockiert dieser Schritt? Kaum. Jede Diktatur ist kunstfeindlich, die chinesische allemal. Aber er macht wütend. Wie soll man ein Pekinger Regime nennen, das selbst eine Skulptur nicht erträgt? Unreif, vor allem. Ungeduldig, bockig wie ein Kindkaiser. Eben noch war Hongkong Leuchtturm chinesischer Erinnerungskultur. Jährlich kamen am Abend des 4. Juni, des Jahrestages des Tiananmen-Blutbads, Zehntausende im Victoria Park zusammen und gedachten im Kerzenmeer der Toten. 2020 und 2021 wurde die Mahnwache untersagt, praktischerweise ließ sich als Grund Corona angeben.
Im Victoria Park war 1997 auch Galschiøts Säule erstmals gezeigt worden, bevor Studierende ihr einen Platz auf dem Campus der ältesten Universität der Stadt erkämpften. Jetzt ist auch sie auf Peking abgerichtet. Hongkong war einst Autonomie bis mindestens 2047 garantiert worden, doch Chinas Chef-Geschichtsklitterer Xi Jinping will so lange nicht warten. Es gelten nun die Regeln des Festlandes. „Chinas Geschichte gut erzählen“, lautet Xis oft zitierte Propagandamaxime. Und Chinas Geschichte gut erzählen, das heißt vor allem, sie nicht zu erzählen.
Cornelius Dieckmann