Rückschlag für Peking: Die Hongkonger haben gewählt – indem sie der Wahl fernblieben
Eine Wahl, bei der nur „Patrioten“ antreten dürfen, ist unpatriotisch. Die historisch niedrige Beteiligung ist eine Blamage für Chinas Regime. Ein Kommentar.
Hongkongs Zivilgesellschaft lebt. Die Legislativratswahlen verzeichneten am Sonntag eine historisch niedrige Beteiligung von 30 Prozent. Es ist eine Blamage für Regierungschefin Carrie Lam und das hinter ihr stehende Pekinger Regime.
Noch bei den Bezirksratswahlen 2019 lag die Beteiligung bei 71 Prozent, das pro-demokratische Lager errang fast 90 Prozent der Sitze. Doch nun durften ausschließlich von der Regierung autorisierte „Patrioten“ antreten, darunter einige Alibi-Moderate (die keinen der 20 zur Wahl stehenden Sitze gewannen) – dies in Hongkongs ohnehin nur teildemokratischem System, in dem bloß die Hälfte vom Volk gewählt war. Die Legislative ist nun vollständig in der Hand Pekings. Die Bevölkerung ist es nicht.
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Schon 2020 hatten Hongkonger begonnen, auf Demos unbeschriebene weiße Blätter hochzuhalten, weil pro-demokratische Slogans unter dem „Nationalen Sicherheitsgesetz“ als separatistisch verfolgt werden. Diese Strategie hat nun Ausdruck im Wahlsystem gefunden. Es wurde ein Referendum des Schweigens, der leeren Wahlzettel.
Regierungschefin Carrie Lam verliert noch mehr Legitimität
Carrie Lam, abermals in Bedrängnis, könnte im März eine zweite Amtszeit anstreben. Ihre von Protesten und Gewalt gezeichnete Regierungsära, bislang das wohl düsterste Kapitel im chinesischen Hongkong, könnte noch die längste in der Geschichte der Sonderverwaltungszone werden. Legitimiert wäre sie dann noch weniger, als sie es ohnehin schon ist. Zuletzt hatte Lam abenteuerlich argumentiert, eine geringe Wahlbeteiligung signalisiere große Zustimmung für die Regierung. Das Volk, so zufrieden! Wenn man einem Durstigen ein Glas Öl und ein Glas Seife anbietet und er beides ablehnt, heißt das dann auch, dass er offensichtlich keinen Durst hat?
Weil auch Peking die Antwort kennt, hatten die Behörden verzweifelt versucht, die Wahlbeteiligung anzukurbeln. Boykott-Aufrufe sind sowieso illegal. An der Grenze zum Festland, naturgemäß eher von Peking-freundlichen Hongkongern bewohnt, wurden eigens drei Wahllokale eingerichtet – Presse und unabhängige Beobachter ausgeschlossen –, in denen bis zu 110.000 Wahlberechtigte abstimmen sollten. Es brachte nichts.
In sozialen Medien protestierten Hongkonger unter dem Hashtag #ReleaseMyCandidate. Prominente Pro-Demokraten, allen voran Joshua Wong, sitzen im Gefängnis. Andere, etwa Nathan Law und Ted Hui, wurden ins Exil gedrängt.
Die Wahl hat erneut gezeigt: An der Urne scheitert das Regime krachend. Mit ihrer Weigerung, sich an der von Peking inszenierten Farce zu beteiligen, hat eine überwältigende Mehrheit der Hongkonger eindrucksvoll unterstrichen, was ohnehin jeder wusste: Eine Wahl, in der nur Patrioten kandidieren dürfen, ist unpatriotisch.
Cornelius Dieckmann