Jugendfilme der Sehsüchte Potsdam: Albtraumhafte Traurigkeit
Die Jugendfilm-Regisseure der Potsdamer Sehsüchte setzen sich mit Missbrauch, Religion und Einsamkeit auseinander. Drei besondere Höhepunkte.
Potsdam - Über dem Dasein der drei Mädchen liegt ein Grusel. Einer, der nicht greifbar ist, aber sichtbar in ihrer Mimik, ihren Körpern. Den stets wachsamen Augen, den immer unter Spannung stehenden Muskeln. Regisseurin Daphne Lucker lässt die Protagonistinnen in „Sisters“ diese Spannung ertanzen. Der Kurzfilm der niederländischen Regisseurin läuft neben neun weiteren Filmen auf den Sehsüchten im Wettbewerb um den besten Jugendfilm. Am gestrigen Donnerstag war er in der Sektion „Future Teens – Closeness“ als einer der ersten Filme des Festivals zu sehen und wird am Sonntag (12.30 Uhr, Filmuni, Kino 2, Marlene-Dietrich-Allee 11) noch einmal wiederholt.
Daphne Luckers 15-Minüter kommt vollkommen ohne Dialog aus, das Tanzen ist hier die Sprache. Zu den intensiven klassisch anmutenden Kompositionen von César Lüttger vollführen die drei Teenager-Darstellerinnen eine zackige Choreographie. Am Anfang vollzieht sich diese im absoluten Gleichklang: Rücken zur Wand, Bauch zur Wand, Hände, die ineinander schlagen. Die drei Mädchen, die – wie der Titel vermuten lässt – Schwestern sind, bewegen sich parallel. Sie bilden eine Einheit, eine trimagische Mauer gegen das unbekannte Unheil, das außerhalb ihres Raumes lauert. In einigen Momenten dürfen sie dabei einfach Schwestern sein: Abzählreime mit den Fingern spielen, miteinander kabbeln, zwei Schwestern, die die Jüngste ausschließen und schließlich wieder aufnehmen.
Ein exzellent inszenierter Albtraum
Doch irgendwann kommt es zum Bruch: Vor der Haustür strahlen kurz Autoscheinwerfer auf, die Mädchen flüchten unter ihr Bett, plötzlich ist die Älteste fort. Hinausgezogen von einer schnellen Hand. Als sie wiederkommt, ist sie verändert. Zittrig, in sich verschlossen. Die Versuche ihrer Schwestern, sie wieder in ihre Einheit zurückzuholen, scheitern.
Die Interpretation eines Missbrauchfalls liegt nahe, auch wenn der Film diesen nie explizit zeigt. Daphne Luckers Auseinandersetzung mit dem Thema ist hoch künstlerisch. Die durch den Tanz überhöhte Szenerie wirkt träumerisch, aber niemals weichgewaschen. „Sisters“ ist ein exzellent durchkomponierter Albtraum, aus dem es noch lange nach dem Abspann kein Erwachen gibt.
Auch Lisa ist in einem Albtraum gefangen. Sie ist die Protagonistin von „Pole Girl“ (Samstag, 10.30 Uhr, Filmuni Kino 2, Marlene-Dietrich-Allee 11), dem 19-Minüter des deutschen Regisseurs Korbinian Dufter, der ebenfalls mit beeindruckenden Tanzszenen berührt. Sie lebt für den Poledance, ihre Tanzgruppe steht kurz vor einer wichtigen Meisterschaft – doch Lisa ist ans Bett gefesselt. Sie hat ein Aneurysma, ihre Hirnaktivität wird konstant überwacht, bewegen darf sie sich nicht. Im Gegensatz zu den jungen Mädchen in „Sisters“ befreit sie sich jedoch aus ihrem Albtraum – mit dem Tanz. Weil sie sich ihren Traum nicht nehmen lassen möchte, tritt sie beim Wettbewerb an.
Wie Darstellerin Emma Drogunova sich zu den modernen Beats bewegt, ihren Körper verbiegt, sich fallen lässt und sich wieder erhebt, ist berührend. Der Tanz hat hier tatsächlich eine erlösende Funktion, sie ist in jeder Bewegung zu spüren. Ob Lisa für diesen Moment der Freiheit eventuell einen zu hohen Preis zahlt, lässt der Film offen und schenkt dem Zuschauer damit einen kurzen Moment bittersüßer Euphorie.
Wenn die Religion zum Gefängnis wird
Nach einem solchen Moment sehnt sich auch Ana. Sie ist die Protagonistin von „San Miguel“ (Samstag, 10.30 Uhr, Filmuni Kino 2, Marlene-Dietrich-Allee 11), einem 18-Minüter der spanischen Regisseurin Cris Gris. Anas kleiner Bruder Miguel ist beim Spielen von einem Dach gestürzt und seitdem verlässt ihre Mutter kaum noch das Bett. Die Familie ist hoch religiös, Miguel hat einen eigenen Altar, auch Ana betet jeden Tag davor. Um ihre Mutter zurückzubekommen, verspricht sie Gott, immer aufrichtig zu sein – doch irgendwann schleichen sich Zweifel ein, ob er ihr überhaupt zuhört.
Ähnlich wie bei „Sisters“ ist Ana als noch junger Mensch auf sich allein gestellt. Ihr Anker ist nicht der Tanz, sondern die Religion, die aber ihren erlösenden Charakter für Ana längst verloren hat. Anders als die drei Schwestern, ist sie müde, die Augen sind leer, den Körper trägt sie nur noch mit Mühe – und ist bereit, ihn zu opfern. Nicht für einen Moment des eigenen Glücks, sondern für ihre Mutter. Was bleibt, ist eine lähmende Traurigkeit.
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