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Ruhe in Potsdams Einkaufsstraße 
© Carsten Holm

Corona-Beschlüsse: Lockerung mit vielen Fragezeichen

Bei Potsdamer Händlern herrscht Unsicherheit über die Umsetzung der schrittweisen Öffnung. Befürchtet wird auch, dass die Finanzspritzen von Bund und Land nicht reichen.

Potsdam - Olaf Lücke, Hauptgeschäftsführer des brandenburgischen Hotel-und Gaststättenverbandes, ist schwer enttäuscht von der Politik. Weder Kanzlerin Angela Merkel (CDU) noch der brandenburgische Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) hätten die Verkündung von Lockerungen der Corona-Restriktionen „mit auch nur einem Wort des Verständnisses für die Krise der Gastronomie geäußert”. Es gehöre zum Krisenmanagement dazu, eine Vision aufzubauen, „wie die Branche nach den harten Wochen ab dem 4. Mai wieder auf die Füße kommen soll”.

Mit einer Teilöffnung, wie sie im Gespräch sei, können Restaurants nicht einmal ihre Kosten decken, sagte Lücke den PNN auf Anfrage. Die meisten von ihnen hätten nach dem Winter keine Rücklagen. Es müsse „ein Rettungsfonds für die Gastronomie eingerichtet werden, sonst können viele den Neuanfang nicht schaffen”. Lücke zufolge dürfe es nicht sein, dass die Betriebe nach dem Ende der Coronakrise mit hoher Verschuldung dastünden. Andere Branchen, so der Verbandschef, seien bei weniger schweren Krisen stärker unterstützt worden: die Autobranche mit Abwrackprämien, die Landwirtschaft mit Dürrehilfen.

Föhnen verboten? Frisöre sollen sich auf Wiedereröffnung einstellen

Um die Zukunft vieler Unternehmen sorgt sich auch Peter Heydenbluth, Präsident der Potsdamer Industrie-und Handelskammer. Derzeit stünden „tausende Existenzen auf den Spiel”, beim Wiederanfahren von Schulen, der Wirtschaft und dem gesellschaftlichen Leben dürfe es keine Unterschiede mehr zwischen den Bundesländern geben. „Warum war es in Potsdam, Oranienburg, Rathenow oder Luckenwalde bisher gefährlicher, Blumen, Bücher oder ein Fahrrad zu kaufen als in Berlin?“, fragt Heydenbluth. Er spielt darauf an, dass Blumen- und Fahrradgeschäft wie auch Buchläden in Brandenburg geschlossen werden mussten, in Berlin aber geöffnet bleiben durften. Trotz der für manche Geschäfte in Aussicht gestellten Lockerungen ist die Unsicherheit unter vielen Betreibern erheblich, wie sie den PNN mitteilten. Auch unter den Friseuren. Peggy Gabbas etwa, Inhaberin von „Naturfriseur by Peggy am Bassinplatz”, freut sich einerseits darüber, am 4. Mai wieder Hand an die Köpfe ihrer Kunden legen zu können. Andererseits: „Niemand weiß, unter welchen Auflagen das geschehen soll. Manchmal höre ich, dass wir nicht mehr föhnen dürfen.” Gabbas sagt, sie habe zwei Stühle, an denen sie arbeite. 

Ab dem 4. Mai sollen Frisöre wieder öffnen. 
Ab dem 4. Mai sollen Frisöre wieder öffnen. 
© Ottmar Winter PNN

Während eine Kundin auf einem sitze und zum Beispiel Farben einwirke, könne sie eine andere Kundin auf dem anderen bedienen. „Für den empfohlenen Abstand von 1,50 Metern kann ich nicht sorgen”, sagt die Friseurmeisterin, es gebe „viel Klärungsbedarf”.
Mike Wittich, Chef vom „Schnittpunkt” in der Kurfürstenstraße, hatte gehofft, schon kommende Woche wieder Haare schneiden zu können. Nun müsse er bis zum 4. Mai warten und „sehen, wie ich das finanziert bekomme”, sagte er den PNN. Ihn ärgert zudem, dass er am frühestmöglichen Termin, dem 25. März, um 9.31 Uhr einen Antrag bei der Investitionsbank des Landes mit allen geforderten Unterlagen auf einen nicht rückzahlbaren Zuschuss gestellt habe. Der Eingang sei neun Minuten später bestätigt worden. „Bis heute habe ich keinen Cent bekommen”, erzählt Wittich. Er erwarte angesichts der Zahl von zehn Mitarbeitern 15.000 Euro Sofortgeld, das er „dringend” benötige: „Ich muss das Kurzarbeitergeld für meine Mitarbeiter ja erstmal vorauslegen. Wenn ich frage, wann das kommt heißt es: bitte Geduld!”

Ladenbetreiber fürchten, dass Finanzspritzen nicht ausreichen

Spricht man Geschäftsinhaber auf die Milliardensummen an, mit denen die Bundes-und die Landesregierung versuchen, die Wirtschaft zu stützen, erkennen fast alle den großen Aufwand an. Doch sie befürchten, dass die Finanzspritzen und die staatlichen Garantien für neue Kredite nicht reichen. Mario Kade etwa, Chef der Potsdamer Traditionsgaststätte auf dem Pfingstberg, die seinen Namen trägt, hatte gehofft, dass die jüngsten Beschlüsse von Bund und Ländern eine eingeschränkte Öffnung von Gaststätten Ende April erlauben. Nun muss er bis zum 4. Mai warten. „In mir keimt die Sorge, dass es noch den ganzen Mai über so weitergehen kann”, sagt Kade. Er bietet freitags bis sonntags Essen außer Haus auf Vorbestellung an, über Ostern hat er zwischen 15 und 20 Prozent des normalen Feiertagsumsatzes verbucht. Immerhin: Kade freut sich über die Treue seiner Stammgäste, „die Menschen verstehen den Wert, den Essengehen hat, mehr: Es ist ein Stück Heimat”. Er sei aber auch darauf angewiesen, dass die Politik und die Virologen sagten, wie es weitergehen solle. Wenn er künftig höchstens 50 seiner 110 Innenplätze an Gäste vergeben dürfe, „dann schleppen wir das jahrelang mit”. 

Das Stern-Center in Potsdam
Das Stern-Center in Potsdam
© Ottmar Winter PNN

Folgen hätten auch andere zu tragen: Kade lädt zu Abenden mit gutem Essen, Musik, Kabarett und Lesungen ein. Das Publikum wird wohl zahlenmäßig kleiner sein, die Gagen für die Künstler ebenso. Auch die Möbelhäuser wissen nicht, was auf sie zukommt. Porta nahe des Stern-Centers in Drewitz etwa muss geschlossen bleiben, weil die Verkaufsfläche von 37.000 Quadratmetern weit über die maximal 800 Quadratmeter hinausragt, die für die kurzfristige Genehmigung erlaubt werden soll. Kann man 800 Quadratmeter abtrennen und darauf eine kleine Auswahl von Couchgarnituren und Einbauküchen präsentieren? „Wir grübeln darüber”, sagt Pressesprecher Holger Wetzel. In der Potsdamer Ligne Roset-Filiale werden die Möbel auf 250 Quadratmetern ausgestellt. „Wir haben meistens nur zwei bis drei Kunden gleichzeitig”, sagt Studioleiter Michael Kaulisch, Abstand sei „bei uns gar kein Problem”. Nur: „Wir haben bis jetzt keine Hygienevorschriften, und wir wissen auch nicht, wo wir Schutzmasken bekommen könnten, falls sie vorgeschrieben werden”.

Enttäuschung wird spürbar, wenn Matthias Mieke, Pfarrer der Nikolaikirchengemeinde die Beschlüsse von Bund und Ländern kommentiert. Er habe mit seiner Kollegin Aline Seel und Dirk Scheinemann, dem Vorsitzenden des Gemeindekirchenrats, „gehofft, dass kleinere und kürzere Andachtsformen mit deutlich begrenzten Teilnehmerzahlen schon sehr bald wieder möglich” seien. In St. Nikolai könnte zu „Gebeten, gemeinsamem Hören biblischer Lesungen, Kirchenmusik und Predigt” eingeladen. Gerade die Älteren, so Mieke, „vermissen schmerzlich den gottesdienstlichen Besuch”. Mieke fasst auch deutliche Kritik in höfliche Worte. „Wir wünschen uns, dass den Gemeinden zugetraut wird, in verantwortlicher Weise Stück für Stück ihre Kirchen zu öffnen, damit Menschen in dieser besonderen Zeit der Vereinsamung die Möglichkeit haben, auch in kleiner Gemeinschaft zu Gott zu beten. Dabei müssen natürlich die Abstands- und Hygienemaßnahmen gewährleistet werden”, sagt er auf Anfrage der PNN. Einschränkend könne für einige Zeit auf den Gemeindegesang verzichtet werden. Dies könnte zum Beispiel bedeuten, dass in den nächsten Tagen und Wochen auch in der St. Nikolaikirche nicht die Gemeinde singt, sondern der Kantor und Pfarrer bzw. Pfarrerin von der Orgelempore und vom Altar.

Vorsichtige Öffnung der Nikolaikirche geplant

In den vergangenen Jahren kamen zu den Oster-Gottesdiensten mehr als 500 Besucher. Jetzt riefen täglich bis zu 20 Menschen an, um sich telefonisch Rat zu holen. Die Nikolaikirchengemeinde plane „eine vorsichtige Öffnung unter Beibehaltung der Abstandsreglungen, damit Menschen nach mehr als vier Wochen zumindest für eine kurze Zeit in der Kirche verweilen können, um ein Gebet zu sprechen oder in der Kirchenbank zur Ruhe zu kommen und einen Moment der Stille zu haben”. Sie würden „eingeladen, mit eigenen Masken zu kommen”.

Es fehlt an Touristen in Potsdam

Nicht alle Geschäftsbetreiber blicken optimistisch in die Zukunft, selbst wenn sie Inhaber kleinerer Läden sind und bald öffnen dürfen. Skeptisch ist Bettina Kuttner-Popov, Chefin der Bettina-Moden in der Dortusstraße: „Das bringt gar nichts, denn ich lebe vor allem von Touristen, die fehlen.” 


Kein Verständnis hat Carsten Wist für manche Maßnahme der Politik. Er kann nicht nachvollziehen, dass Buchhändler wie er in Brandenburg ihre Geschäfte wegen der Coronakrise schließen mussten, die Kollegen in Berlin und Sachsen-Anhalt aber nicht. „Bohrmaschinen sind in Brandenburg wichtiger als Bücher”, sagt Wist. Als begeisterter Rennradler stieg er fast täglich mit einem Rucksack auf den Sattel und lieferte Bücher bis nach Michendorf und Wilhelmshorst aus, insgesamt mehr als 200 Stück.
Auch Lonny Becker-Weigand, Floristin in Bornstedt, hat versucht, sich über Wasser zu halten. Mit 20 bis 25 Fleurop-Sträußen konnte sie ihre Fixkosten decken. Sie geht von einer Wiedereröffnung am 27. April aus.
Irritiert sind manche Autohändler. Es heißt, sie könnten den Verkauf bald wieder beginnen, aber die Details sind unklar. „Wir könnten sofort loslegen, aber wir warten noch auf genaue Vorschriften”, sagt Benjamin Hein, Geschäftsführer des Mercedes-Benz Autohauses Sternagel.


„Ziemlich wütend” ist Jan Lehmann, einer der Geschäftsführer der Potsdamer Weißen Flotte. Er hatte gehofft, dass die Schiffe nach Ostern wenigstens mit Einschränkungen ablegen können – vergeblich. „Die Lockerungen sind in Wahrheit nur Rumeierei”, sagt er. Er habe „das Gefühl, dass ganz Deutschland nur aus Frisören besteht, obwohl die viel näher an Kunden arbeiten als es in Restaurants geschieht”. Die Bundesregierung müsse endlich einen Plan aufstellen, „damit wir wissen, wie es weitergeht”.

Umfrage unter Potsdamern: Lockerungen nicht zu schnell aufgeben

Im Zentrum befragten die PNN am Donnerstag Passanten, wie sie die bisherigen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie bewerten – und ob sie die am Mittwoch in Aussicht gestellten Lockerungen befürworten. Das Fazit: all zeigten Verständnis für die Restriktionen und plädierten dafür, sie nicht zu schnell aufzuheben.
Eine Potsdamer Soziologin etwa beruhigt es, dass die Schulen für jüngere Schüler zunächst nicht geöffnet werden sollen. Die Klassenräume seien „zu klein und zu eng”, um sinnvolle Abstandsregeln einzuhalten. „Wenn wir die Schulen zu früh öffnen und da weitermachen, wo wir aufgehört haben, laufen wir in die nächste Corona-Welle hinein”, warnte die Mutter von zwei Jungen im Kleinkindalter. 

Nikolaikirche soll vorsichtig geöffnet werden. 
Nikolaikirche soll vorsichtig geöffnet werden. 
© Andreas Klaer

Marie-Louise Lange, in Potsdam arbeitende Ergotherapeutin, beurteilt den Umgang der Politik mit der Pandemie als „vernünftig”. Sie verstehe jedoch nicht, warum Restaurants geschlossen bleiben müssten und Geschäfte bis zu einer Größe von 800 Quadratmeter geöffnet werden dürften. „Wenn Restaurants dafür sorgen, dass Gäste den Mindestabstand von eineinhalb bis zwei Metern einhalten können, sollten sie geöffnet werden”, sagt Lange.

Carsten Holm

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