Olaf Scholz in Potsdam: Kanzler ohne Heimatfront
Der Bundeskanzler, öffentlich und medial unter Druck als Zauderer, lädt im Wahlkreis zum Bürgergespräch über den Ukraine-Krieg. Politischer Nahkampf in der Kanzlerstadt?
Potsdam - Blau-Weiß, überall. Obwohl es ja um Blau-Gelb geht. Doch die Farben der über zwanzig Einsatzfahrzeuge der Polizei, ringsum positioniert, dominieren am Sonntagvormittag das Bild am Luisenplatz. Kanzler Olaf Scholz (SPD) hat zum öffentlichen Wahlkreisgespräch geladen, „über den Krieg in der Ukraine und seine Folgen“. Einfach kommen, „und Ihre Frage stellen“, so stand es auf den Einladungen.
Es ist Scholz’ Kiez, er wohnt am Alten Markt. Landespolizei und Bundeskriminalamt sind mit einem Großaufgebot präsent, kein Wunder: Potsdam ist für eine teils militante linksalternative Szene bekannt, auch für eine starke Linke und eine offensive AfD. Wird es ein politischer Nahkampf für den Kanzler, der hier seinen Wahlkreis hat und wegen seiner Ukraine-Politik auf der großen Bühne unter Druck steht?
Scharfenberg: "Er hat Schneid"
„Ich finde, er hat Schneid“, sagt Hans-Jürgen Scharfenberg, Linke-Urgestein, der sich extra vom Stern zum Brandenburger Tor aufgemacht hat. Er sei neugierig, es seien ja brennende Themen, etwa auch, wie es mit der Raffinerie PCK in Schwedt weitergehe. Gut 300 Interessierte haben sich eingefunden. Geschätzt 100 von ihnen sitzen in einem mit Gittern abgesperrten Bereich, Scholz’ Bauministerin Klara Geywitz, die gleich nebenan wohnt, in der ersten Reihe .
Pünktlich kurz nach 11 Uhr, die Sonne scheint noch, legt Olaf Scholz los, ohne langes Tam-Tam, in Jeans und Trenchcoat. Am Samstag Telefonat mit Putin, am Sonntag die Nahaufnahme, was die Potsdamer von seiner Politik halten.
Scholz erklärt fast 20 Minuten seine Ukraine-Politik, seine Sichten auf Putin, der sein Reich „mit einem imperialistischen Eroberungsfeldzug“ erweitere, der ihm im direkten Gesprächen etwas von russischsprachigen Menschen in der Ukraine als Begründung für den Krieg erzählt habe. Der Krieg – ein Bruch, mit allem, was vorher galt. „Was wäre los in der Welt, wenn man Grenzen verschieben würde, wo anderssprachige Menschen leben?“, sagt Scholz.
In Afrika, wo nach Worten des Kenia-Botschafters der UN mal betrunkene Kolonialherren die Landkarte aufteilten, gäbe es „dann 200 Jahre Krieg“. Beifall. Er verteidigt die Sanktionen des Westens, spricht von der Hilfe Deutschlands für die Ukraine, mit Geld, „und natürlich gehört auch dazu, dass wir in großem Umfang Waffen liefern“, Panzerabwehr, Luftabwehr, Artilleriegerät. „Wir werden auch weiterhin solche Entscheidungen treffen.“
Kein Zwischenruf, keine Pfiffe, nicht mal ein Protestplakat
Es ist ruhig auf dem Luisenplatz. Die Leute hören aufmerksam zu, viele mit nachdenklichen Mienen, ein, zwei Mal gibt es Applaus. Niemand stört, niemand ruft dazwischen, kein Pfiff, kein Buh-Ruf, weit und breit nicht einmal ein Protestplakat. Und das bleibt so, bis zum Schluss. Wenn es ein Test für Scholz war, dieser erste Kundgebungsauftritt vor Ort seit der Wahl: Dann ist Potsdam, Kanzlerstadt, für Scholz ein sicheres Hinterland an der politischen Heimatfront.
[Was ist los in Potsdam und Brandenburg? Die Potsdamer Neuesten Nachrichten informieren Sie direkt aus der Landeshauptstadt. Mit dem Newsletter Potsdam HEUTE sind Sie besonders nah dran. Hier geht's zur kostenlosen Bestellung.]
Ring frei für Fragen. Den Auftakt macht ein junger Mann, Student der Raumplanung. Unter welchen Bedingungen könne sich der Kanzler eine Lockerung von Sanktionen vorstellen? Scholz hält sich zurück. Es dürfe nicht sein, das allein „aus unserer Perspektive zu sehen“: „Wir haben einen klaren Standpunkt: Über die Zukunft der Ukraine können nur die Ukrainer entscheiden.“
Frage nach Panzern lässt Scholz unbeantwortet im Regen
Dunkle Wolken sind jetzt über dem Luisenplatz aufgezogen, echte, es nieselt, dann schüttet es. Viele Zuhörer verschwinden unter Regenschirmen. Und Scholz? Er macht weiter, ohne Schirm, als wäre nichts, auch als Georg von Samson aus Stahnsdorf, Professor an der FU Berlin wissen will, wann Deutschland endlich die geforderten Panzer liefert, Marder, Leopard. Es ist eine der Fragen der Fragen. Da holt der Kanzler aus. Deutschland liefere schweres Gerät, abgestimmt mit den Verbündeten, er spricht von Flakpanzern, von Panzerabwehr, „so ziemlich das Modernste, was es gibt“. Er redet und redet. Nur die konkrete Frage nach Kampfpanzern beantwortet er nicht.
Als eine Frau die steigenden Preise, das bedrohte soziale Gleichgewicht in Deutschland anspricht, antwortet Scholz so: „Wir reden über Speiseöl, andere über Weizen, den sie zum Leben brauchen.“ Er verweist auf das 30-Milliarden-Euro-Entlastungsprogramm der Bundesregierung, den auf zwölf Euro gestiegenen Mindestlohn. Man nehme die Inflation sehr ernst. Später stellt er klar, dass die Regierung nicht ständig Hilfsprogramme werde auflegen können.
Unter den Scholz-Fragern keine Arbeiter, Handwerker oder Verkäuferin
Es folgen viele vorwiegend außenpolitische Fragen, von Studenten, einem Beamten, einem Wissenschaftler, vom SPD-Ortsvereinschef Michendorf. Aber kein Arbeiter, keine Verkäuferin, kein Handwerker nutzt die Gelegenheit. Die Potsdamer Migrationsbeauftragte Amanda Palenberg fragt angesichts der Ukraine-Flüchtlinge nach der Anpassung des deutschen Asylrechts, wegen der Ungleichbehandlung anderer Flüchtlinge.
Da widerspricht Scholz: „Es gibt keine Ungleichbehandlung. Der Status ist identisch.“ Ein lokales Thema wird gestreift, die umstrittene Havelseen-Autobahnraststätte an der A 10. Er habe dem Verkehrsminister geschrieben, der habe geantwortet, sagt der Kanzler. Man sehe, er habe sich, wie im Wahlkampf zugesagt, gekümmert.
"Lassen Sie sich nicht von Putin einschüchtern!"
Dann, fast am Schluss, kommt auf dem Luisenplatz doch noch Spannung auf. Eine 70-Jährige redet sich in Rage, spricht Scholz’ Aussagen zu den Waffenlieferungen an. „Die ganze Welt schaut auf Deutschland. Wenn Selensky hier wäre oder die Klitschko-Brüder, die würden sagen, das ist eine Lüge!“, sagt sie. „Ich bitte Sie inständig, lassen Sie sich nicht von Putin einschüchtern!“ Und Scholz? Er dankt für die Wortmeldung und widerspricht. „Wir liefern sehr viel.“
Er deutet an, dass mehr folgen werde, „Dinge, über die gegenwärtig noch gar nicht in der Öffentlichkeit gesprochen wird“. Es folgt eine Attacke von der anderen Seite, auch von einer Rentnerin, eingeleitet mit dem Dank an Scholz, sich nicht „am Kriegstourismus“ zu beteiligen und vom „unsäglichen Botschafter der Ukraine“ nicht beeinflussen zu lassen. Sie sei 75 Jahre alt, sagt die Frau, und wenn der Atomkrieg komme, nehme sie sich ein Glas Wein und höre Tschaikowsky – aber sie habe Kinder und Enkel, sie wolle keine Waffenlieferungen.
"Macht darf nicht stärker als Recht sein"
Scholz dankt auch für diese Frage, die das Spektrum der Meinungen zeige, wichtig in einer Demokratie. Er weist darauf hin, dass es „ein lange geplanter Krieg ist“, dass die Entscheidung Putins „vor einem oder vor Jahren“ gefallen sein muss, „um das Nachbarland ganz oder teilweise zu erobern“. Es gehe aktuell auch darum, dass „Macht nicht stärker als Recht sein darf“.
Den eineinhalbstündigen Scholz-Auftritt dürften am Ende viele so sehen wie der Potsdamer Dieter Arnold, der mit seiner Frau alles verfolgt hat: „Ich finde es gut, wie er sich auch den unangenehmen Fragen gestellt hat.“