PNN-Serie: Wir im Staudenhof: „Der Staudenhof gehört dazu“
Über die Zukunft des Staudenhofs diskutiert Potsdam seit Jahren. Doch wer lebt dort eigentlich? Wir stellen zehn Bewohner vor. Heute: Mit Martin im Quartierstreff.
Martin sieht die Sache realistisch. „Der Staudenhof ist sicherlich nicht besonders schön“, sagt der 43-Jährige. „Aber er gehört dazu.“ Vor drei Jahren hat Martin den Mietvertrag über seine kleine Einzimmerwohnung unterschrieben: „Mit Balkon, Fernheizung, Gas – so schlecht sind die Wohnungen nicht.“ Vor allem die zentrale Lage sei unschlagbar: Bibliothek, Hauptpost, Bank, Museum Barberini, Freundschaftsinsel, Einkaufsmöglichkeiten – „alles um die Ecke“. Und dann natürlich der Preis. 287 Euro Warmmiete zahle er: „Für Potsdamer Verhältnisse ist das fast hinterhergeworfen.“
Den Staudenhof, den kenne er noch aus seiner Studienzeit. „Damals war hier unten ein Internetcafé“, erzählt Martin. „Es gab gute Musik.“ Heute ist das frühere Café ein Quartierstreff und Martin geht gern hin: „Ich bin fast jeden Tag hier.“ Auch für das Gespräch mit der Zeitung schlägt er den Quartierstreff, der heute vom Verein Soziale Stadt getragen wird, vor.
Von 12 bis 18 Uhr steht der Raum im Erdgeschoss für jeden offen. Hinter dem Tresen ist Tatjana Lagutina die gute Seele des Hauses. Sie weiß, wann jemand einfach in Ruhe gelassen werden will und wann ihr offenes Ohr gefragt ist. Ihre Gäste spannt sie auch schon mal für Verschönerungsarbeiten ein, zum Beispiel zur Pflege der Blumen vor dem Haus.
„Es gibt solche Tage und solche“, sagt sie. Der Kaffee wird auf Spendenbasis ausgeschenkt. Auch das findet Martin gut. „Ab und zu kann ich auch mal einen Kaffee schnorren – wenn ich mein Geld mal wieder für Bücher ausgegeben habe und pleite bin“, erzählt er und lächelt: „Aber zu oft geht das nicht.“
Martin besuchte das Gymnasium auf Hermannswerder
Geboren in Schwedt an der Oder, kam Martin 1992 nach Potsdam. Er lernte am evangelischen Gymnasium auf Hermannswerder, wohnte dort im Internat. Nach dem Abitur blieb er in Potsdam, studierte Germanistik und Philosophie. „Das absolute Karrierekillerprogramm“, wie er heute selbstironisch einräumt. Seinen Abschluss hat er 2005 gemacht, danach wollte es aber nicht so recht klappen mit einer Arbeit. Ein Anlauf für eine Doktorarbeit scheiterte. Er wollte umschulen, begann eine Ausbildung zum Heilerziehungspfleger, also in der Betreuung von Menschen mit Behinderungen. Dann wurde er selbst krank. Diagnose: Depression. Nicht nur beruflich ging gar nichts mehr, auch seine Ehe ging in die Brüche, die beiden Kinder leben heute mit der Mutter.
Martin verlor wegen seiner Depression irgendwann auch seine alte Wohnung, kam zwischenzeitlich bei Freunden oder Bekannten unter. Die Streetworker von der Potsdamer Creso halfen ihm schließlich, die Wohnung im Staudenhof zu organisieren, erzählt er. Seitdem geht es bergauf. Martin arbeitet heute mitunter wieder einige Stunden pro Woche als Assistenzkraft in der Heilerziehungspflege. „Ab und an mal eine Nachtwache“, sagt er.
Vom Concierge und der Essenstreppe
Das Leben im Staudenhof sei manchmal schon speziell, erzählt Martin und schmunzelt. Das fängt schon beim Concierge im Erdgeschoss an. Dass dort Pakete abgegeben oder auch kleinere Probleme vor Ort schnell geklärt werden, findet Martin gut. „Aber manchmal fühlt man sich auch ein bisschen kontrolliert“, sagt er.
Und dann gibt es „die sogenannte Essenstreppe“: Ein Treppenhaus, in dem alle paar Monate jemand Essensreste und Speiseöl auf dem Boden verteile. „Keiner weiß, wer das ist“, erzählt Martin. Am Anfang habe er selbst noch versucht, aufzuräumen, mittlerweile habe er das aufgegeben.
Das Haus ist extrem hellhörig
Störend sei auch die Hellhörigkeit der Wände. „Wenn man nachts irgendetwas fallen lässt, sind drei Leute wach“, sagt Martin: „Man hört jedes Husten.“ Hinzu komme, dass in der Nacht öfter Feuerwerk vor dem Haus gezündet werde. Mit den Flüchtlingen im Haus habe das nichts zu tun: „Wenn hier einer Krach macht, dann sind es die Deutschen.“
Wenn man nachts irgendetwas fallen lässt, sind drei Leute wach. Man hört jedes Husten.
Martin
Nur vereinzelt hat Martin Kontakt zu den Nachbarn. „Für viele ist das Haus eine Durchgangsstation“, sagt er. Auch für ihn ist der Staudenhof keine Dauerlösung, sein Mietvertrag ist bis 2022 befristet.
"Man kann nicht den früheren Zustand rekonstruieren"
Dass das Gebäude danach wohl verschwinden wird, bedauert Martin. Als „geschichtsvergessen“ kritisiert er die Entwicklung in der Potsdamer Mitte und den Abriss des alten Fachhochschulgebäudes: „Man kann nicht einen früheren Zustand rekonstruieren, das funktioniert nicht.“
Er selbst wird nach dem Abriss wohl nicht wieder so zentral wohnen können, befürchtet er. Ein WG-Zimmer in einem anderen Stadtteil könnte es vielleicht werden: „Was man eben so bezahlen kann.“
HINTERGRUND
Der Wohnblock mit der Adresse Am Alten Markt 10 wurde 1971 bezogen. Benannt ist er nach der gleichnamigen, bereits abgerissenen Grünfläche.
182 Wohnungen gibt es in dem Wohnblock, die meisten haben ein Zimmer und sind genau 30,25 Quadratmeter groß. Nur einige wenige an der nordwestlichen Gebäudeecke haben vier Zimmer und rund 100 Quadratmeter - wie jene von Ludmila und ihrer Familie. 30 Wohnungen werden außerdem als Flüchtlingsunterkunft genutzt, der sogenannte Wohnungsverbund wurde 2014 gestartet.
Wie es mit dem lange unsaniertem Bau weitergeht, ist noch nicht entschieden. Die Eigentümerin, die kommunale Pro Potsdam, favorisiert einen Abriss. Auch viele Stadtpolitiker sind gegen Erhalt und Sanierung.
Die nächste Folge der Serie erscheint am Dienstag in den PNN. Dann stellen wir die Bewohnerin Helga vor. Wenn Sie keine Folge verpassen wollen, lesen Sie bis zu 30 Tage gratis zur Probe.