Vor 100 Jahren: Als Frauen zum ersten Mal im Stadtparlament saßen
Es war eine Premiere: Vor hundert Jahren zogen am 18. März 1919 sechs Frauen in die Potsdamer Stadtverordnetenversammlung ein. Ihre Geschichte wird gerade erforscht.
Potsdam - Noch weiß Jeanette Toussaint nicht, wie sie aussahen. Doch dank ihrer Recherche weiß die Potsdamer Ethnologin jetzt aber die Namen jener sechs Frauen, die heute vor einhundert Jahren als erste weibliche Abgeordnete mit in der neu gewählten Potsdamer Stadtverordnetenversammlung (SVV) saßen.
Im Auftrag des Projekts Frauenwahllokal hat die studierte Soziologin Toussaint die Leben dieser sechs Frauen recherchiert. Ihre Ergebnisse stellt sie am heutigen Montagabend bei einem Festakt im Museum Barberini vor - denn vor einhundert Jahren hat der damalige Oberbürgermeister Kurt Vosberg am 18. März 1919, laut Toussaint vermutlich sogar im Vorgängergebäude, dem Palast Barberini, die neu gewählten Stadtverordneten in ihre Ämter eingewiesen.
Zum ersten Mal dürfen Frauen wählen - und kandidieren
Rückblick: Im Frühjahr 1919 steht Deutschland als junge Weimarer Republik zwischen den Altlasten des Krieges und dem Sprung in die Moderne. Nach vier Jahren grausamer Materialschlachten im Ersten Weltkrieg ist das Land am Ende seiner Kräfte. Am 19. Januar finden in der jungen Republik reichsweit die ersten freien Wahlen statt. Und diesmal dürfen auch Frauen an die Urnen gehen - und kandidieren.
In der Weimarer Nationalversammlung erreichen Frauen in politischen Ämtern bereits einen Anteil von knapp 10 Prozent. Auch in Potsdam spiegelt sich diese Quote mit sechs Frauen unter 60 Abgeordneten wieder. Für die meisten von ihnen wird das politische Engagement bereits 1933 wieder ein Ende finden. Als die Nationalsozialistische Partei Deutschlands (NSDAP) unter Adolf Hitler die Macht ergreift, bleibt das Frauenwahlrecht zwar bestehen. Die NS-Partei stellt aber keine Kandidatinnen mehr auf.
Nur Bruchstücke aus dem Leben der sechs Frauen
„Es war nicht leicht, Ergebnisse zu den ersten Frauen in der Potsdamer SVV zu finden“, sagt Sabine Hering vom Projekt Frauenwahllokal. Sie habe gesehen, wie viel Arbeit in die Recherche geflossen sei. Dennoch gibt es bis heute nur Bruchstücke aus dem Leben jener sechs Frauen.
Zumindest aber sind die Namen laut Toussaints Nachforschungen bekannt. Für die damals stärkste Fraktion, die Deutschnationale Volkspartei, sitzt 1919 Elisabeth Holmgren in der Versammlung, vierfache Mutter und Ehefrau eines Bauingenieurs. Zwei weitere Sitze für die linksliberale Deutsche Demokratische Partei (DDP) haben Helene Krohn und Martha Schulz inne - wobei Krohn damals die einzige der Potsdamer Politikerin ohne Mann und Kinder ist. Martha Schulz, Ehefrau eines Kaufmanns, ist wiederum als vielleicht einzige Frau bereits vor ihrer Kandidatur und Wahl politisch aktiv gewesen - als Vorsitzende des Hausfrauenvereins sowie des Frauenvereins, für den sie auch eine Rechtsschutzstelle leitete.
Für die zwölfköpfige SPD-Fraktion sitzt Berta Beyertt, Ehefrau eines Zigarrenfabrikanten und Mutter von drei Kindern, im Stadtparlament. Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) vertritt Mathilde Lange, zweifache Mutter und Ehefrau eines Tischlers. Für die nationalliberale Deutsche Volkspartei zieht Elisabeth Hoffmann in die Versammlung ein, sie ist mit einem Baumeister verheiratet.
Meist soziale Themen
Knapp zwei Wochen nach ihrer Amtseinführung melden sich die ersten Frauen in der Stadtverordnetenversammlung zu Wort: So setzt sich die DDP-Vertreterin Schulz für die Gleichberechtigung der weiblichen Handwerkerinnen ein. Als Mütter, aber auch, weil Frauen damals oft Ehrenämter innehatten, äußern sich die sechs Kommunalpolitikerinnen meist zu sozialen Themen, wie etwa Zuschüssen für soziale Träger oder Schulthemen. Aber die Arbeit als Abgeordnete ist zeitaufwendig. Auch vor hundert Jahren schon.
Die Potsdamer Versammlung tagte freitags alle zwei Wochen ab 17 Uhr - oft bis zu sieben Stunden. Das ist in anderen Gemeinden ähnlich. Damit sei in Deutschland zwar allgemein die Beteiligung zurückgegangen, sagt Hering: „In Potsdam aber nicht.“ Im Gegenteil. Der Anteil der Frauen in der SVV steigt bis 1929 auf 14 Prozent.
Von der USPD in die SPD
Im Jahr 1928 wird mit Else Bauer eine besonders engagierte Frau in die SVV gewählt. Toussaints Recherchen ergeben, dass die 1893 in Potsdam geborene kaufmännische Angestellte erst Mitglied der USPD war, aber dann zur SPD wechselte. Mit ihrem Ehemann arbeitet sie für das sozialdemokratische Potsdamer Volksblatt - „er als Geschäftsführer, sie in der Anzeigenwerbung“, heißt es in den Forschungsergebnissen.
Else Bauer drängt es nach dem Zweiten Weltkrieg erneut in die Politik. Sie leitet zunächst die Abteilung Arbeit und Sozialfürsorge im brandenburgischen Landesvorstand der SPD. Schließlich wird sie in die SED übernommen, kehrt kurzfristig als Stadtverordnete in die Kommunalpolitik zurück und erarbeitet sich schließlich, als erste Frau, das Amt der Vizepräsidentin des Brandenburger Landtags.
Ihre Urenkelin, Barbara Diederich, ist heute auch zu Gast bei dem Festakt im Barberini. Ihre Mutter sei als Kind viel bei Else Bauer und ihrem Mann gewesen. Das Paar gelte als Vorbild für Toleranz, Engagement und Großzügigkeit, sagt die 48-Jährige, die ihren Urgroßvater noch kennengelernt hat: „Diese Werte haben sie auch in der Familie immer hochgehalten.“
+++ Hintergrund: Fotos der ersten Politikerinnen gesucht: Das Projekt Frauenwahllokal wurde im Herbst vergangenen Jahres vom Autonomes Frauenzentrum Potsdam e.V. im Potsdamer Eiscafé „Evas Sünde“, Dortustraße 22, gegründet. Anlass gab das Jubiläum des Frauenwahlrechts am 12. November. Die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen wollenpolitisches Engagement von Frauen fördern. Die Recherchearbeiten zu Frauen in der Potsdamer Politik sind noch nicht abgeschlossen: Zu den ersten sechs weiblichen Abgeordneten in der Stadtverordnetenversammlung gibt es zum Beispiel noch keine Bilder. Deshalb werden die Potsdamer, die etwas zu den Frauen sagen können, gebeten, sich über die Internetseite zu melden. Am morgigen Dienstag lädt das Lokal ein, eine Prozession zum Landtag zu begleiten. Die Initiative will dort ihr Manifest „Uns gehört die Hälfte der Welt“ an die Landtagspräsidentin Britta Stark (SPD) übergeben. Treffpunkt ist um 9 Uhr der Vordereingang des Museums Barberini.
Naima Wolfsperger