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Abgemagert und in schlechter Verfassung: Nawalny Ende April bei einer Video-Anhörung. Europas Top-Politiker stehen an seiner Seite.
© Uncredited/Babuskinsky District Court/AP/dpa

Julian Assange und Alexej Nawalny: Zwei Fälle, die nicht nur Europas Doppelmoral verbindet

Nawalny und Assange sind beide Opfer von politischer Verfolgung und Willkürjustiz, erfahren aber unterschiedliche Solidarität - auch aus Europa. Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Harald Schumann

Der eine Gefangene ist Opfer eines Giftanschlags und gesundheitlich schwer angeschlagen. Trotzdem schickte ihn ein Gericht wegen Unterschlagung und Geldwäsche für dreieinhalb Jahren in ein berüchtigtes Straflager. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte fest, das Urteil sei willkürlich und unfair. Der angebliche Straftäter hat sich nämlich lediglich der Aufklärung von Korruption schuldig gemacht, und die Regierung will ihn kaltstellen.

Die Verurteilung sei „ein herber Schlag gegen verbriefte Freiheitsrechte und Rechtsstaatlichkeit“, empörte sich Deutschlands Außenminister Heiko Maas. Der Mann müsse „unverzüglich freigelassen werden“. Auch sein britischer Kollege Dominic Raab sprach von einem „perversen Urteil“, und Amerikas Außenminister Antony Blinken kündigte an, man werde das Regime zur Verantwortung ziehen. Der Name des Gefangenen lautet Alexej Nawalny, verurteilt in Russland.

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Der andere Gefangene wird seit zwei Jahren in einem Hochsicherheitsgefängnis in Isolationshaft festgehalten – und das ohne rechtsgültiges Urteil.

Er zeigt nach Ansicht eines UN-Experten die typischen Symptome für Opfer von psychischer Folter. Dabei hat er sich im Land seiner Gefangenschaft keinerlei Straftat schuldig gemacht. Eine ausländische Regierung wirft ihm Verschwörung und Spionage vor.

Doch tatsächlich hat der angebliche Spion in Zusammenarbeit mit führenden westlichen Medien Geheimdokumente veröffentlicht, die Kriegsverbrechen der Armee dieses Staates enthüllten. Trotzdem wurde er auf unbegrenzte Zeit eingesperrt, bis über eine Auslieferung entschieden ist.

Das Maas-Ministerium will "nicht kommentieren"

Amnesty International erklärt, seine andauernde Haft sei „willkürlich, politisch motiviert und ein Angriff auf die freie Meinungsäußerung“. Doch auf Unterstützung europäischer Regierungspolitiker kann er nicht hoffen. Minister Maas lässt mitteilen, das Auswärtige Amt werde den Vorgang „nicht kommentieren“. Und genauso halten es seine europäischen Kollegen. Der Name des Gefangenen lautet Julian Assange, inhaftiert in Großbritannien.

Nawalny, Assange – beide sind unzweifelhaft politische Gefangene. Beide sind Opfer von politischer Verfolgung und Willkürjustiz. Doch während Nawalny Unterstützung und Beistand bei den Regierungen Europas findet, lassen diese der britischen Regierung freie Hand, den Whistleblower und Enthüller Assange im Auftrag der US-Regierung im Gefängnis verrotten zu lassen.

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Diese Doppelmoral ist unerträglich. Ganz gleich, wie man zu den politischen Ansichten und Aktionen des Gründers von Wikileaks steht: Ein Spion im Sinne der Anklage aus den USA, die ihm mit 175 Jahren Haft drohen, ist er ganz sicher nicht. Wer die jahrelange illegale Inhaftierung von Assange rechtfertigt, der erteilt der US-Regierung einen Freibrief, alle Journalisten weltweit mit Verfolgung zu bedrohen, die in den Besitz amerikanischer Geheimdokumente kommen und darüber berichten.

Käme es tatsächlich zu einer Auslieferung würde das „einen gefährlichen Präzedenzfall für alle Journalisten schaffen, die geheime Informationen von öffentlichem Interesse publizieren“, warnt darum die Nichtregierungsorganisation „Reporter ohne Grenzen“. Menschenrechte sind unteilbar. Wer diesen Grundsatz nicht eisern verteidigt, der verwirkt alle Glaubwürdigkeit. Das gilt auch für den deutschen Außenminister.

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