Merkel und die Flüchtlinge: Zurück in der Mädchenschublade
Aus "Die kann es nicht" ist, schlimmer, "Weiß sie, was sie tut?" geworden. Die Flüchtlingskrise bietet neue Gelegenheit zum Mutti-Bashing. Ein Kommentar.
Flüchtlingsgipfel der EU-Länder, Flüchtlingsgipfel von Bund und Ländern – fast kurios, noch für etwas anderes so viele Zeitungszeilen auszugeben. Oder gerade richtig? Wir von der politischen Klasse – hier spricht nicht kleine Eitelkeit, sondern der große Max Weber – sind nämlich gerade dabei, eine Wirklichkeit zu schaffen, die von der wirklichen Wirklichkeit deutlich entfernt ist.
Wer Stunde um Stunde Nachrichten konsumiert, vor allem in Radio und Fernsehen – gerade in einer alternden Gesellschaft sind das ja nicht wenige –, und den ewig gleichen Aufmachern mit den ewig gleichen Bildern oft gesichtsloser Massen von Fremden ausgesetzt ist, könnte leicht auf die Idee kommen, das Abendland werde tatsächlich gerade von einer Flüchtlingswelle davongespült. Zwar sind die als bedrohlich verkauften Massen aktuell in etwa die Zahl, die Deutschland viele Jahre lang jährlich brauchte, um sich nicht abzuschaffen, sondern zu erhalten – seine Schulen, sein Gesundheitssystem, Läden und Straßen. Das hat das asylpolitisch unverdächtige Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung kürzlich ausgerechnet. Aber wer die „Welle“ oft genug vom Bildschirm ins eigene Wohnzimmer rollen sieht, wer weiß.
Reden wir übers Geschlecht
Deshalb soll es hier zur Erholung um das Urbild des Fremden in nicht klassisch mutterrechtlichen Gesellschaften gehen – so viele gibt’s ja nicht: um das fremde, das andere Geschlecht, die Frau. Alles in Ordnung, könnte mancher und sogar manche meinen, die Geschlechtergerechtigkeit hat doch große Fortschritte gemacht, selbst die erklärtermaßen weit nach konservativ oder auch rechts lehnende AfD leistet sich eine Chefin, und Land und Partei, die einst Adenauers waren, werden auch von einer regiert. Fragt sich nur, ob das viel ändert. Von Nord bis Süd fragten sich in dieser Woche gleich drei große Wochenblätter auf der Titelseite, also maximal besorgt, ob Kohls Mädchen in den zehn Jahren Praktikum im Kanzleramt auch genug gelernt habe, um uns durch die Flüchtlingskrise zu steuern: In Hamburg wurde Merkel ins Mutter-Teresa-Kostüm fotomontiert – lies: moralisch sauber bis moralinsauer, aber politisch? –, von der Schlagzeile der Konkurrenz dagegen offen der Unzurechnungsfähigkeit verdächtigt: „Weiß sie, was sie tut?“ Der Mitbewerber im Süden bleibt da eher konventionell: „Schafft sie das?“ heißt es auf dem Titel der Münchner Kolleginnen und Kollegen, der wie die Hamburger Heilige noch ein paar Tage am Kiosk zu besichtigen ist.
Heilige und Hure, schon wieder
Schau mer mal, wann anderes geschafft ist: dass eine mächtige Frau nie aufhört, dafür angegriffen und verhöhnt zu werden, dass sie eine Frau ist, dass sie ewig unter Generalverdacht steht, sie könne es nicht, sie bringe es nicht, sie sei entweder eiskalt oder, wenn sie das nicht ist, eine Heulsuse, und spätestens wenn sie Kinder habe, werde sie ... Und so weiter und so fort. Die Kanzlerin hat in diesem Bilderdschungel bereits eine beeindruckende Pendelkarriere hinter sich: Von Kohls Mädchen (kann nichts) zur Schwarzen Witwe, die all die starken Männer verschlingt, die Merze und Kochs (eiskalt). Und jetzt, in einer Lage, die für jede Politikerin, für jeden Politiker Neuland wäre, um sie selbst zu zitieren, scheint die Gelegenheit wieder günstig, sie in die älteste aller Mädchenschubladen zurückzustopfen: haltlos, ahnungslos. Wertlos.
Wer anders hat dieses Frauenbild seit Beginn des modernen Patriarchats am stärksten repräsentiert? Das war und ist – die Kanzlerin möge verzeihen – die Hure, die hässliche andere Seite der Münze, auf deren Vorderseite die Heilige geprägt ist, die echte Mutter Teresa oder die im Kanzleramt.
Die Frau, Urobjekt der Ausgrenzung
Womöglich kein Zufall, dass die Regierung Merkel selbst gerade ein Prostitutionsgesetz ins Werk setzt, das nicht nur die polizeistaatlichen Werkzeuge des 19. Jahrhunderts entstaubt – Kontrolle, Gesundheitsaufsicht, jetzt als Beratung kostümiert –, sondern auch das alte Bild des mal gefallenen, mal ohnehin haltlosen Mädchens, das, möglicherweise, nicht über die, so wörtlich, „zum eigenen Schutz erforderliche Einsicht verfügt“. Natürlich haben nicht zuletzt Frauen dieses viktorianische Monstrum von Gesetzentwurf verfasst; patriarchalische Verhältnisse sind schließlich immer auch das Werk von Frauen.
Der Weg zurück in Frauenfragen, dem Schlachtfeld der Ausgrenzung schlechthin, lässt für eine immer buntere Gesellschaft nichts Gutes erwarten. Es sei denn, es wäre nur die politische Klasse, die im 19. Jahrhundert feststeckt. Hoffen wir, dass der Souverän, Otto und Ottilie Normalverbraucher, längst weiter ist.