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Annalena Baerbock und Robert Habeck müssen jetzt verhandeln.
© Michael Kappeler/dpa

Grüne für Ampel-Koalitionsverhandlungen: Zum Stresstest könnte nur die Basis werden

Trotz vieler Zugeständnisse im Sondierungspapier stimmt der Grünen Parteitag für Koalitionsverhandlungen. Kritik kommt aus Berlin und von der Basis.

Ein bisschen fühlt sich Robert Habeck wohl wie Bill Murray in „Täglich grüßt das Murmeltier“, als er auf die Bühne im Convention Center im Berliner Westhafen tritt. Zum dritten Mal in fünf Wochen spricht der Grünen-Vorsitzende auf einem Parteitag, zum zweiten Mal in zwei Wochen in der alten Backstein-Fabrikhalle in Moabit, die Habeck „unser kleines, grünes Wohnzimmer“ nennt. Und ein bisschen fühlt es sich bei Kaffee, Sojamilch und Apfelkuchen auch so an. Eine Delegierte hat ihren Hund mitgebracht.

Dabei geht es an diesem Sonntag um eine Frage mit historischer Dimension. Das zwölfseitige Sondierungspapier, das die Spitzen von SPD, Grüne und FDP in der Nacht auf Freitag bis fünf Uhr morgens verhandelt und am Mittag schließlich beschlossen hatte, soll vom Länderrat der Partei abgesegnet werden. Erst mit der Zustimmung der 99 Delegierten sollen Koalitionsverhandlungen aufgenommen werden. Der nächste Schritt zur Ampel, der am Ende bei rund 70 Ja- und nur zwei Nein-Stimmen gegangen wird.

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Dabei gäbe es eigentlich genug Möglichkeiten für Kritik am beschlossenen Sondierungspapier. Zahlreiche Projekte der Grünen sind mit dem Sondierungspapier bereits gestorben. Das Tempolimit von 130 Stundenkilometern auf Autobahnen wird es nicht geben, auch die Steuererhöhungen für Spitzenverdiener und die Wiedereinführung der Vermögenssteuer werden nicht kommen. Andere zentrale Vorhaben, wie ein „Bürgergeld“ statt Hartz IV, der frühere Ausstieg aus der Kohleverstromung oder eine Mobilitätswende sind nur sehr vage beschrieben.

„Lindners Porsche nicht zu bremsen“, twittert Christian Ströbele fast zeitgleich zum kleinen Parteitag. Der langjährige Bundestagsabgeordnete aus Kreuzberg, der so etwas wie das linke Gewissen der Grünen ist, zeigt sich tief enttäuscht: „Auch mit einer gerechteren Welt wirds wohl nix.“ Reiche würden reich bleiben, Arme arm. „Nicht gut“, so Ströbele, der seit Jahren in Moabit lebt.

Ein paar hundert Meter weiter im Westhafen gibt es kaum so deutliche Worte. Das liegt auch an Robert Habeck, der seine Partei gleich zu Beginn einnordet und unter Zugzwang setzt. „Wir sind in einer Hoffnungszeit angekommen“, sagt Habeck und erzählt von einer Freundin, die ihm von einer Party erzählt habe, auf der hoffnungsvoll über Politik gesprochen wurde. Ein klassischer Habeck, kleine Anekdote für die große Erzählung.

"Wir haben die Chance, die Wirklichkeit zu gestalten"

Habeck, der in einer Ampel-Koalition wohl Vizekanzler werden soll, nimmt seine Partei in die Pflicht. Die Zustimmung für Koalitionsverhandlungen sei der Beweis einer „reifen Partei“. „Wir haben die Chance, die Wirklichkeit zu gestalten“, sagt Habeck und nimmt der möglichen Kritik gleich den Wind aus den Segeln.

Beim Tempolimit habe man sich nicht durchgesetzt und – schmerzhafter für ihn – auch bei der Steuerpolitik habe man der FDP Zugeständnisse gemacht. „Wir haben Verluste in diesem Sondierungspapier zu verzeichnen.“ Gleichzeitig würden die Erfolge überwiegen. Zwölf Euro Mindestlohn, Kindergrundsicherung, ein modernes Einwanderungsrecht, Fortschritte bei Fragen von Flucht und Asyl, die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre, Bürgerräte und die Erfolge beim Klimaschutz zählt Habeck auf. „Wir wollen die Verantwortung, wir wollen die Wirklichkeit gestalten“, sagt Habeck.

[Kommentar: Das Sondierungspapier ist mehr als ein farbloser Kompromiss (T+)]

Darauf gibt es nur dezente Kritik im Westhafen. Es ist wohl auch der Tatsache geschuldet, dass sich die Delegierten des Länderrats aus 99 Personen zusammenstellen, die in irgendeiner Form Funktionen in der Partei innehaben. Abgeordnete der Bundestagsfraktion, Vorsitzende der Landesverbände, Landtagsabgeordnete sowie die 25 Menschen aus dem erweiterten Verhandlungsteam. Alles Personen, die mitunter ein persönliches Interesse am Zustandekommen einer Regierung haben. Der Stresstest für die Grünen dürfte erst am Ende der Koalitionsverhandlungen stehen, wenn die traditionell linke Basis zum Koalitionsvertrag befragt wird.

Kapek fordert Möglichkeiten, Mieten zu deckeln

Am Sonntag kommt am meisten Kritik vom Berliner Landesverband. „Wir sollten uns das Sondierungspapier nicht besoffen reden“, sagt der aus Neukölln neu in den Bundestag gewählte Andreas Audretsch. Es gebe noch „mächtig Arbeit“ in Koalitionsverhandlungen. Die Grundsicherung Hartz IV dürfe nicht nur zum „Bürgergeld“ umetikettiert werden.

Antje Kapek, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus, forderte die Verhandler auf, den Ausbau von Radinfrastruktur und eine Stärkung des ÖPNV nicht zu vergessen. Vehement warb sie dafür, dass eine Ampel-Koalition dafür sorge, Städte wie Berlin in die Lage zu versetzen, die Mieten zu deckeln. „Wir brauchen radikal neue Möglichkeiten, um die Leute zu schützen, damit sie in ihren Wohnungen bleiben können“, sagte Kapek. „Bitte verhandelt hier knallhart.“

Lasse Petersdotter, Landtagsabgeordneter aus Schleswig-Holstein, warnte zudem: „Wir müssen aufpassen, dass die FDP nicht Grenzen zieht und wir Hoffnungen beschreiben.“ Nach seiner Rede fing ihn direkt Habeck ab – am Ende stimmen Petersdotter, Kapek und Audretsch alle für Koalitionsverhandlungen. Andere Delegierte loben die Verhandler ausdrücklich.

Lediglich Cansin Köktürk spricht sich offen gegen eine Aufnahme von Koaltionsverhandlungen aus. "Ich habe mit dem Ergebnis das Gefühl, dass die FDP die Bundestagswahl gewonnen hat", sagt sie über das Sondierungspapier. Sie erkenne Bemühungen Neoliberalismus und soziale Gerechtigkeit zusammenzubringen. "Aber sie sind nicht zielführend", sagte Köktürk. Auf Grundlage des Sondierungspapier könne man Armut nicht bekämpfen. Viel Applaus bekommt sie jedoch nicht.

Anders Annalena Baerbock, der die letzte Rede im Westhafen gehört. Auch sie hebt die gesellschaftspolitischen Erfolge hervor. Die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre und die Stärkung der Rechte von Homosexuellen. Ergänzt aber: „Was wirklich ein Erfolg ist, ist das, was wir beim Klimaschutz erreicht haben.“ Eine Solarpflicht auf Neubauten, ein früherer Ausstieg aus der Kohle und zwei Prozent der Landesflächen für erneuerbare Energien würden einen Unterschied machen. „Wir haben Lust aufs Machen“, sagt Baerbock am Ende. Dafür gibt es fast 100 Prozent Zustimmung und stehende Ovationen von ihren Parteifreunden. Auch für sie ein Bill-Murray-Moment.

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