Interview mit Gökay Sofuoglu: „Zu viel Druck bewirkt das Gegenteil“
Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinden, Gökay Sofuoglu, über Erdogans Ziele, seine Macht in Deutschland und die verletzten Gefühle der Türken in Deutschland
- Antje Sirleschtov
- Claudia Keller
Herr Sofuoglu, nach dem Putschversuch hat Präsident Erdogan eine „Säuberung“ des Landes angekündigt. Wird das die Türkei weiter von Europa entfremden?
Die Putschisten sollen die Konsequenzen für ihr Tun auf jeden Fall im Rahmen der Rechtsstaatlichkeit spüren. Das darf aber nicht mit einem Generalverdacht auf alle Oppositionelle ausgeweitet werden.
Wie gefährlich ist es für den Demokratisierungsprozess in der Türkei, wenn der Westen jetzt Druck auf Erdogan ausübt?
Der Westen wäre gut beraten, wenn er die Situation in der Türkei kritisch beobachtet. Allerdings wird zu viel Druck das Gegenteil von dem bewirken, was der Westen will und Erdogans antiwestlichen Kurs weiter befördern.
Welche Folgen hat das für die Visafreiheit?
Die Visafreiheit war leider vor dem Putschversuch auch nicht ganz nah. Nun wird es wohl noch länger dauern, bis man aus der Türkei ohne Visum nach Europa kommen kann. Das finde ich in der Tat sehr schade, weil es vielen Menschen in Deutschland das Leben erleichtert hätte.
Anfang Juni hat der Bundestag die Massaker an den Armeniern vor 100 Jahren im Osmanischen Reich als „Völkermord“ verurteilt. Auf Ihrer Internetseite steht: Durch die Resolution habe „das Vertrauen der Deutschlandtürken gegenüber dem deutschen Staat, dem deutschen Parlament und den etablierten Parteien erheblichen Schaden genommen“. Warum?
Nicht nur die Armenien-Resolution hat viele Deutschtürken enttäuscht. Es gab viele Anlässe davor – von der Verweigerung der doppelten Staatsbürgerschaft über die schleppende Aufklärung der NSU-Morde bis zu den Regelungen des Familiennachzugs bei den Geflüchteten.
Aber die Regelungen für die Flüchtlinge betrifft alteingesessene Migranten gar nicht.
Doch, denn in der öffentlichen Wahrnehmung wird gar nicht mehr unterschieden zwischen Flüchtlingen und Menschen, die seit 50 Jahren hier leben. Das wird alles vermischt. Und dann auch noch die Armenien-Resolution!
Warum hat der Beschluss des Bundestags so viele Deutschtürken verletzt?
Man will nicht als Kinder oder Enkel von Völkermördern gelten. Die geschichtliche Aufarbeitung hat in der Türkei nicht so stattgefunden wie in Deutschland. Die Türkei hat sich nicht mit dem Osmanischen Reich auseinandergesetzt, das wird immer noch als goldene Zeit verklärt. Doch wie jetzt darüber diskutiert wurde, nämlich vermischt mit Tagespolitik, hat genau das Gegenteil bewirkt. Auch der alleinige Fokus auf den Begriff Völkermord war nicht hilfreich. Der Impuls zur Aufarbeitung der Geschichte muss außerdem von den Türken selbst ausgehen. Je mehr Druck von außen kommt, umso weniger geschieht etwas. Deshalb begrüße ich den Vorstoß der Kanzlerin zur Gründung der Historikerkommission, was aber so schnell wie möglich erfolgen muss.
Was hätten Bundestag und Regierung besser machen können?
Man hätte viel früher mit den Migranten-Organisationen reden müssen, die Probleme mit der Resolution haben. Aber auch bei anderen Themen, die uns betreffen, wird viel zu wenig mit uns gesprochen. Zum Beispiel beim Integrationsgesetz.
Da wurden Sie nicht gefragt?
Nein, wir sind überrascht worden. Hier wäre wichtig die Arbeit des Integrationsbeirats fortzusetzen, um über solche Entwicklungen zu besprechen.
Die Bundesregierung mit einer Integrationsministerin macht ein Gesetz und lässt die Migrantenorganisationen außen vor? Hat der Bundestag die Deutschtürken durch die Resolution erst recht in Erdogans Arme getrieben?
Das konnte man schon daran sehen, wie viele Organisationen sich zur Demonstration gegen die Resolution zusammengeschlossen haben, säkulare und religiöse, ultrarechte und linke Gruppen, die zuvor wenig gemeinsame Interessen hatten. Die Türkische Gemeinde hat nicht dazu aufgerufen! Das war ein Geschenk für Erdogan! Es ist ihm egal, ob Europa positiv oder negativ über ihn denkt – Hauptsache man redet über ihn. Er nutzt jede Gelegenheit, um seine Macht auch in Deutschland auszubauen.
Werden Deutschtürken nicht als gleichwertige Deutsche wahrgenommen?
Sie werden ausgegrenzt, und wenn sie sich dann so verhalten, als würden sie nicht dazu gehören, werden sie erst recht stigmatisiert. Ein Teufelskreis. Viele würden gerne hier ankommen, fragen sich aber: Will man überhaupt, dass wir hier ankommen?
Tut die Politik zu wenig?
Ja. Ich bin seit 36 Jahren in Deutschland. Alle Gesetze, die uns betreffen und die in dieser Zeit erlassen wurden, haben mit Sanktionen zu tun. Die Verdienste werden überhaupt nicht wahrgenommen. Die erste Generation der Einwanderer hat das Land mit aufgebaut. Ich wünsche mir eine Geste der Bundesregierung zumindest an diese Generation. Zum Beispiel, indem sie die doppelte Staatsbürgerschaft bekommt, ohne Wenn und Aber. Damit sie ohne weiteres zwischen Deutschland und der Türkei hin- und herreisen können. Die Willkommenskultur fehlt immer noch in der deutschen Politik und Gesetzgebung.
Woher kommen diese verletzten Gefühle? Es stehen ihnen doch alle Wege offen, oder?
Es sind nicht nur verletzte Gefühle, sondern auch viele Ungerechtigkeiten. Leider stehen ihnen nicht alle Wege offen. Bewerber mit türkischen Namen haben bei gleicher Qualifikation schlechtere Chancen. Das haben Studien immer wieder ergeben. Auch bei der Wohnungssuche gibt es Vorbehalte. Es ist auch immer noch im Gedächtnis, dass Wohnheime von Migranten in Mölln, Rostock und anderswo angezündet wurden. Der NSU konnte unbehelligt zehn Menschen ermorden – und der Prozess, der das aufklären sollte, bringt jede Woche neue Pannen ans Licht. Aber niemand tritt zurück oder übernimmt Verantwortung.
Hat die Entfremdung der Deutschtürken zugenommen?
Das glaube ich nicht. Aber sie tritt mehr ins Bewusstsein, weil es mittlerweile Intellektuelle aus Einwandererfamilien gibt, die selbstbewusst und sprachmächtig genug sind, um die Missstände öffentlich zu kritisieren.
Was muss geschehen?
Die Wahrnehmung muss sich verändern. Ich habe zum Beispiel neulich im Garten Rasen gemäht und schwitzte, weil es ein heißer Tag in Stuttgart war. Da kommt mein Nachbar und fragt: Ist es bei Ihnen auch so heiß? Er hat es nicht böse gemeint, aber trotzdem signalisiert: Du gehörst eigentlich gar nicht hierher.
Brauchen wir eine Migrantenquote, etwa im öffentlichen Dienst?
Ich war früher kein Freund von Quoten. Mittlerweile denke ich, dass es anders nicht geht. Migranten müssten flächendeckend vertreten sein.
Viele Moscheen in Deutschland arbeiten mit Imamen aus der Türkei. Wie könnte man erreichen, dass dort mehr hier ausgebildete Imame wirken?
Die deutschen Universitäten haben ja erst kürzlich mit Studiengängen für islamische Theologie begonnen. In fünf Jahren werden wir besser aufgestellt sein.
Die türkischen Imame bezahlt die Türkei. Wer soll die deutschen bezahlen?
Man könnte über eine Moscheen-Steuer nachdenken – analog zur Kirchensteuer. Dazu müsste der Islam ins Staats-Kirchen-Recht integriert werden. Man muss pragmatische Lösungen finden statt im Schwarz-Weiß-Denken zu verharren.
An welche Lösungen denken Sie?
Die Debatte um den Islam ist eine der wichtigsten Diskussionen in Deutschland. Das Thema müssten die Ministerpräsidenten oder auch die Kanzlerin zur Chefsache machen. Aber auch die Islam-Verbände müssen sich Gedanken machen, wie sie sich von den Heimatländern abkoppeln und finanziell überleben können, etwa durch Fördergelder aus Töpfen von Bund und Ländern. Wichtig ist auch, dass die Bedürfnisse der säkularen Muslime zur Geltung kommen. Doch für die gibt es noch kein Sprachrohr.