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Die Bundesregierung hat für ihren Armutsbericht zum ersten Mal auch das Thema Reichtum intensiv untersuchen lassen.
© IMAGO

Bericht der Bundesregierung: Zu Armut gehört Reichtum

Zum ersten Mal untersucht die Bundesregierung in ihrem Armuts- und Reichtumsbericht auch die Situation von Vermögenden. Was sind ihre Erkenntnisse?

Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hat einen Entwurf für den fünften Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung vorgelegt. Das knapp 650 Seiten starke Dokument, das dem Tagesspiegel vorliegt, gibt Auskunft über die Lebenslagen der Menschen in Deutschland. Erstmals steht dabei das Thema Reichtum stärker im Fokus. Das Kabinett soll den Bericht voraussichtlich im kommenden Frühjahr beschließen.

Warum gibt es einen Armutsbericht?

Vor gut 20 Jahren verpflichtete die Bundesrepublik Deutschland sich beim Weltsozialgipfel in Kopenhagen, einen nationalen Armutsbericht zu erstellen. Doch bis es dazu kam, vergingen etliche Jahre. Erstmals legte die damalige rot-grüne Bundesregierung im Jahr 2001 einen solchen Bericht vor. Die Berichterstattung sei „eine Voraussetzung für eine gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstands und damit für die Beseitigung der Armut“, versprach die Koalition bei der Einführung. Seitdem mussten alle Regierungen einmal in jeder Legislaturperiode Auskunft über die Verteilung von Armut und Reichtum geben.

Wie kommt der Bericht zustande?

Für die Analyse der sozialen Situation in Deutschland stützt sich die Bundesregierung auf umfangreiches Datenmaterial – angefangen bei der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundesamts bis hin zu den regelmäßigen Befragungen des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Am Ende sind es zwar die Mitarbeiter des Bundesarbeitsministeriums, die den Bericht schreiben. Doch sie greifen auf wissenschaftliche Expertise zurück. So vergab das Ministerium verschiedene Forschungsaufträge – beispielsweise zur Situation von Hochvermögenden in Deutschland. In Symposien wurden die wissenschaftlichen Berater unter anderem befragt, mit welchen Indikatoren sich Armut und Reichtum vernünftig messen lassen. Die Indikatoren sind im Internet unter www.armuts-und-reichtumsbericht.de veröffentlicht.

Wie definiert die Bundesregierung Armut?

Die Bundesregierung stützt sich auf die Definition des Europäischen Rates von 1984. Danach gelten Personen als arm, wenn sie „über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist“. In wohlhabenden Gesellschaft wird ein solcher relativer Armutsbegriff benutzt, der auf das jeweilige Wohlfahrtsniveau Bezug nimmt.

Darüber hinaus gibt es den Begriff der „absoluten Armut“, wie ihn etwa die Weltbank definiert: Danach gilt jemand als arm, der weniger als 1,90 Dollar pro Tag zur Verfügung hat. In Deutschland wäre eine solche Betrachtung nach Ansicht der Bundesregierung „unangemessen“. Der Betrag reiche hierzulande noch nicht einmal, um das Überleben zu sichern.

Wie viele Menschen sind in Deutschland von Armut bedroht?

Als armutsgefährdet gilt in Deutschland, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Die Daten des SOEP ergeben, dass die Quote seit dem Ende der 1990er Jahre bis 2005 gestiegen ist und seitdem bei rund 14 Prozent verharrt (zum Vergleich: im Jahr 2000 waren es 11,6 Prozent). Kinder und junge Erwachsene sind häufiger von Armut bedroht als Menschen in mittlerem oder höherem Alter. „Besonders oft befinden sich Alleinerziehende und Arbeitslose unter der relativen Einkommensschwelle“, heißt es im Bericht. Die Armutsrisikoquote von Erwerbstätigen sei etwa halb so hoch wie im Durchschnitt der Bevölkerung.

Führt die Zunahme von atypischer Beschäftigung zu höheren Armutsrisiken?

Seit den 1990er Jahren hat die sogenannte atypische Beschäftigung deutlich zugenommen. Dazu zählen befristete Jobs, Teilzeitstellen, Minijobs, Zeitarbeit oder die freie Mitarbeit in einem Betrieb als Selbstständiger. Besonders für Berufseinsteiger ist die Wahrscheinlichkeit deutlich gestiegen, dass ihr erster Job kein „Normalarbeitsverhältnis“ ist. Das Arbeitsministerium gab daher zwei Studien in Auftrag, welche die Auswirkungen von atypischer Beschäftigung im Lebenslauf untersuchen sollten. Dabei kamen die Forscher zum Ergebnis, dass ein „Einsperreffekt“ zu beobachten ist: So erhöhte die atypische Beschäftigung zum einen das Risiko, arbeitslos zu werden. Zum anderen sank die Wahrscheinlichkeit, in Zukunft in einem Normalarbeitsverhältnis beschäftigt zu sein. Atypisch Beschäftigte sind demnach außerdem weitaus häufiger von Niedriglöhnen betroffen. Alles Faktoren, die zur Entstehung von Armut beitragen können.

Bundessozialministerin Andrea Nahles (SPD)
Bundessozialministerin Andrea Nahles (SPD)
© Kay Nietfeld/dpa

Wie wird Reichtum gemessen und wie hat sich dieser entwickelt?

Als einkommensreich gelten Personen, die mindestens das Doppelte oder das Dreifache des mittleren Einkommens beziehen. Ihr Anteil liegt laut Regierungsbericht seit Jahren vergleichsweise stabil bei acht beziehungsweise bei zwei Prozent. Mitte der 90er Jahre fiel ihr Anteil aber noch niedriger aus – mit sechs beziehungsweise rund einem Prozent (laut SOEP-Daten).

Betrachtet man die oberen zehn Prozent der Einkommensbezieher in Deutschland, so stieg ihr Durchschnittseinkommen zwischen 1995 und 2010 von rund 97000 Euro auf rund 116000 Euro. Von der Zunahme des Reichtums profitierte in dieser Gruppe am stärksten der obere Rand: So stieg das Durchschnittseinkommen des oberen Prozents von rund 280000 auf rund 380000 Euro.

Reichtum wird in Deutschland allerdings weniger mit hohen Einkommen als vielmehr mit hohen Vermögen assoziiert. Der Anteil von Personen mit einem individuellen Vermögen ab einer halben Million Euro war laut Bericht zwischen 2002 und 2012 leicht rückläufig und sank von rund 2,8 auf rund 2,6 Prozent der Bevölkerung. Grundsätzlich findet man in der Gruppe der Einkommens- und Vermögensreichen tendenziell mehr Männer als Frauen, mehr Personen aus Westdeutschland als aus dem Osten – und mehr Menschen in der Altersgruppe ab 50 Jahren als Jüngere.

Woher kommt Reichtum?

Bisher liegen in Deutschland nur wenige Studien zum Thema Reichtum vor. Für den aktuellen Bericht unterstützte das Arbeitsministerium daher Forschungsprojekte in diesem Bereich. Die Universität Potsdam und das Deutsche Instituts für Wirtschaftsforschung befragten 130 Hochvermögende in Deutschland mit einem frei verfügbaren Geldvermögen von mindestens einer Million Euro zur Herkunft und zur Verwendung ihres Reichtums. Für die Genese von sehr hohen Vermögen sind demnach offenbar zwei Gründe ausschlaggebend: Erbschaften und Unternehmertum.

In den letzten Jahren haben laut Regierungsbericht Erbschaften und vor allem Schenkungen zugenommen. Studien kämen zum Ergebnis, dass Erbschaften und Schenkungen einen „beachtlichen Effekt“ auf die gemessene Vermögensungleichheit hätten. Das liege auch daran, dass Haushalte am oberen Ende der Vermögensverteilung häufiger erbten – und zwar durchschnittlich höhere Beträge und Vermögenswerte. Laut Bundesbank gibt es außerdem einen Zusammenhang zwischen Einkommen und Vermögen – zumindest an den Rändern: So verfügen die einkommensreichsten zehn Prozent der Haushalte über mehr als 35 Prozent des Vermögens.

Hat die Ungleichheit in Deutschland in den vergangenen Jahren zugenommen?

Seit 2005 gibt es laut Bundesregierung eine weitgehend stabile Verteilung der Einkommen. Gemessen wird dies unter anderem mit dem „Gini-Koeffizienten“. Je näher der Wert bei der Zahl eins liegt, desto größer ist die Ungleichheit. Laut SOEP-Daten liegt der Koeffizient in Deutschland seit 2005 relativ konstant bei Werten zwischen 0,28 und 0,29.

Auch die Einkommensanteile, die auf die obere und untere Hälfte der Einkommensbezieher entfallen, weisen seit Jahren ein stabiles Verhältnis auf, heißt es in dem Bericht. So verfüge die obere Hälfte der Bezieher derzeit über rund 70 Prozent der Einkommen, so wie in den Vorjahren. Noch zu Beginn des letzten Jahrzehnts, zur Jahrtausendwende, seien die Einkommen allerdings „deutlich gleichmäßiger verteilt“ gewesen, heißt es weiter.

Bei den Vermögen hingegen stellt die Bundesregierung eine „sehr ungleiche Verteilung“ fest. Im Jahr 2013 betrug die Summe aller Nettogesamtvermögen in Deutschland rund 4,9 Billionen Euro. Während die westdeutschen Haushalte davon im Schnitt über Vermögen von rund 140000 Euro verfügten, waren dies im Osten nur 61000 Euro – also nicht einmal die Hälfte.

Es wird zudem eine sehr ungleiche Verteilung zwischen „oben“ und „unten“ festgestellt: So konnten die vermögensstärksten zehn Prozent der Haushalte über die Hälfte des Nettovermögens auf sich vereinen. Die Haushalte in der unteren Hälfte verfügten hingegen nur über ein Prozent des gesamten Nettovermögens.

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