Chemiewaffen in Syrien: Zieht der Westen in den Krieg?
Obama will durchgreifen, weil in Syrien Giftgas eingesetzt werde. Russland ist pikiert. England und Frankreich drängen seit langem auf militärische Hilfe für die Rebellen, Deutschland lehnt das ab. Folgt der Westen dem Beispiel der USA?
Die USA sehen es als erwiesen an, dass das Assad-Regime in Syrien im Kampf gegen die Rebellen Chemiewaffen einsetzt. Für Präsident Barack Obama ist damit die von ihm selbst definierte „rote Linie“ überschritten und er kündigt Waffenlieferungen zur Unterstützung der Rebellen an. Nicht überall wird dieser Schritt begrüßt, zumal eine politische Lösung des Syrien-Konfliktes damit in weite Ferne zu rücken scheint.
Wie ist die Situation in Syrien?
„Wir können nicht länger warten. Alle Opfer waren umsonst, wenn wir nicht rasch Waffen geliefert bekommen“, beschwor der Oberbefehlshaber der „Freien Syrischen Armee“, Salim Idriss, kürzlich in Jordaniens Hauptstadt Amman die Außenminister der „Freunde Syriens“. Anderenfalls werde der Kampf gegen das Assad-Regime in wenigen Monaten verloren sein. „Wir brauchen panzerbrechende Waffen, Abwehrraketen gegen Kampfflugzeuge und Munition“, flehte er seine sichtlich beeindruckten diplomatischen Zuhörer an und pochte erneut auf die Einrichtung einer Flugverbotszone. Die Moderaten unter den syrischen Aufständischen sind in den letzten Wochen so stark in die Defensive geraten, wie nie zuvor. Unablässig werden ihre Stellungen im Norden, Osten und Süden des Landes von Hubschraubern und Kampfflugzeugen des Regimes bombardiert.
Die verlorene Schlacht um Kusair hat die Moral der Assad -Gegner schwer erschüttert. Die Panzerkolonnen des Diktators dagegen rücken unterstützt von 3000 bis 4000 Hisbollah-Elitetruppen auf Homs und Aleppo zu, um beide Städte wieder ganz unter Kontrolle zu bringen. Zudem treiben in den von Rebellen kontrollierten Gebieten immer mehr Gotteskrieger aus verschiedenen Ländern ihr Unwesen, ausgerüstet durch Katar und Saudi-Arabien. Letzte Woche in Aleppo richteten drei schwarz gekleidete, radikale Islamisten einen 14-jährigen Kaffeeverkäufer wegen angeblicher Gotteslästerung vor den Augen seiner entsetzten Eltern hin. Aufgebrachte Menschen zogen daraufhin vor das Hauptquartier der Al-Nusra-Brigaden und machten ihrem Ärger gegen beide Seiten Luft – die Schlächter von Al Qaida und die Schlächter von Assad.
Welche Beweise gibt es für den Einsatz von Chemiewaffen in Syrien?
Das Weiße Haus teilte am Donnerstag lediglich mit, nach Erkenntnissen der US-Geheimdienste hätten Assads Truppen 2012 mehrmals „in geringem Umfang“ Chemiewaffen eingesetzt. Bei den auch mit dem Nervengas Sarin geführten Angriffen seien „100 bis 150 Menschen“ getötet worden, sagte der stellvertretende Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Barack Obama, Ben Rhodes. Dass Assad-Regime wies das zurück und beschuldigte seinerseits die Rebellen, Chemiewaffen einzusetzen. Auch Russland bezweifelt die US-Angaben. Der US-Militärgeheimdienst DIA bestätigte wiederholt, das syrische Chemiewaffenprogramm umfasse umfangreiche Bestände an Nervengift, die auch mit Flugzeugen oder Raketen eingesetzt werden könnten.
Werden die Waffenlieferungen den Rebellen wirksam helfen?
Die US-Waffenlieferungen, die die CIA über die Türkei organisieren soll, werden nicht auf Sturmgewehre und Munition beschränkt bleiben. Wie die „New York Times“ berichtet, soll die „Freie Syrische Armee“ auch Panzerfäuste und Mörsergranaten bekommen, tragbare Boden-Luft-Raketen gegen Kampfjets jedoch sind vorerst nicht geplant. Und so könnten die neuen Waffen die militärische Lage der Rebellen zwar stabilisieren, ohne sie jedoch entscheidend zu bessern. „Die Waffen werden unsere Moral heben“, erklärte Rebellen-General Salim Idriss. Assads Panzer können künftig nicht mehr ungehindert in den Städten operieren.
Die verheerenden Luftangriffe auf Rebellenorte hingegen bleiben auch weiterhin ohne Gegenwehr. Nach Informationen des „Wall Street Journal“ wollen die US-Militärplaner allerdings im Süden Syriens eine erste, 40 Kilometer breite Flugverbotszone errichten, die mit F-16-Kampfjets erzwungen werden soll. Die Flugzeuge sollen über jordanischem Territorium bleiben, nicht in den syrischen Luftraum eindringen und die syrischen Flugabwehrbatterien mit Raketen größerer Reichweite ausschalten. Darüber hinaus will die US-Armee vor der Küste Syriens Amphibien-Fahrzeuge für eine schnelle Eingreiftruppe stationieren.
Wie reagieren die Verbündeten der USA?
Frankreich hat immer wieder eine stärkere Unterstützung für die syrischen Rebellen gefordert. Staatspräsident François Hollande rief vergangene Woche die internationale Gemeinschaft zum Druck gegen Syrien auf : „Wir haben Beweise vorgelegt und fordern die Völkergemeinschaft auf zu handeln.“ Er ließ noch im Unklaren, welche Art Handeln er meinte. Doch Außenminister Laurent Fabius sprach sich am Mittwoch dafür aus, dass der Westen Waffen liefert. Grund für die Forderung waren jüngste Erfolge von Assads Regierungstruppen. Paris hat schon Anfang Juni Assad beschuldigt, Chemiewaffen gegen die Rebellen eingesetzt zu haben, als die USA noch mehr Beweise forderten. Aus analysierten Proben gehe hervor, dass das Nervengift Sarin verwendet wurde, betonte Fabius. Es lägen alle Optionen auf dem Tisch, einschließlich der militärischen, erklärte er. Auch der britische Außenminister William Hague stellte sich hinter die USA. Man sei ebenso wie die USA der Meinung, das Regime von Präsident Assad habe chemische Kampfstoffe wie beispielsweise Sarin eingesetzt, sagte Hague am Freitag.
Wie reagiert werden solle, werde man intern sowie zusammen mit den USA und Frankreich beraten, unter anderem beim bevorstehenden G8-Gipfel in Nordirland. Im vergangenen Monat hatte die Europäische Union auf Drängen von Frankreich und Großbritannien das Waffenembargo gegen Syrien zum 1. Juni beendet. Damit wurde ermöglicht, dass die Rebellen mit Waffen versorgt werden können, allerdings ist nicht geplant, vor August zu liefern. Frankreich erklärte sich bereit, diese von der EU gesetzte Frist zu respektieren.
Wie betrifft Obamas Ankündigung Israel?
Für Israel ist eines klar: Auf keinen Fall in den Konflikt hineinziehen lassen. Insofern bereitet Amerikas neue Haltung zum Bürgerkrieg in Syrien den Regierenden in Jerusalem einiges Kopfzerbrechen. Denn Waffenhilfe für die Opposition mag ja sinnvoll sein, um den Vormarsch der syrischen Armee zu stoppen. Doch militärische Hilfe birgt eben die große Gefahr, dass Raketen und anderes modernes Kriegsgerät in die falschen Hände geraten – in die von Islamisten. Die tummeln sich inzwischen zu Tausenden in Syrien. Und so heterogen und verfeindet die fundamentalistischen Gruppen auch sein mögen, eines eint sie: der Hass auf Israel. Einschließlich der Bereitschaft, martialischen Worten Taten folgen zu lassen.
Doch soweit will es der jüdische Staat keinesfalls kommen lassen. Deshalb wurden in den vergangenen Monaten mehrfach Waffentransporte – mutmaßlich für die Hisbollah – auf syrischem Territorium angegriffen. Soll man nun die Attacken generell einstellen, weil die Militärhilfe für die vermeintlich Guten bestimmt ist? Und darauf hoffen, dass diese Waffen nicht in absehbarer Zeit gegen Israel gerichtet werden? Eine schwierige Gefechtslage, zumal Jerusalem den wichtigsten Verbündeten USA nicht verprellen will.
Wie reagieren Assads Unterstützer?
Für diplomatische Worte war Alexej Puschkow noch nie bekannt. Der Vorsitzende des Komitees für internationale Angelegenheiten des russischen Parlaments schießt auch jetzt via Twitter unverblümt gegen die USA: „Die Daten über die von Assad verwendeten chemischen Waffen“, schreibt der 58-Jährige, seien „am selben Ort fabriziert wie auch die Lüge über die Massenvernichtungswaffen von Saddam Hussein. Obama schlägt denselben Weg ein wie George Bush.“ Auch Juri Uschakow, außenpolitischer Berater von Präsident Wladimir Putin, hält den Einsatz von C-Waffen durch syrische Regierungstruppen für „nicht überzeugend“. Russlands Position zu Syrien ist nicht zu verrücken.
Die mit den USA angedachte Friedenskonferenz um das gebeutelte Land rückt weiter nach hinten, obwohl Moskau und Washington doch stets dasselbe betonen: „Das syrische Volk muss auf eine unabhängige und demokratische Weise über seine Zukunft entscheiden.“ Aber: „Unabhängigkeit und Demokratie“ definieren beide Staaten schlichtweg anders. Und warum sollte Russland plötzlich Menschenrechtsverletzungen des Assad-Regimes anprangern, wenn es den politischen Aufstand in seinem eigenen Land – mag er bei Weiten nicht mit dem in Syrien zu vergleichen sein – seit Monaten übergeht?
Moskau klammert sich in Syrien an den Fortbestand seiner geopolitischen Überlegungen. Bereits Zar Nikolai I. kämpfte im 19. Jahrhundert gegen das Osmanische Reich, um Syrien und Ägypten aus dem türkischen Imperium herauszulösen und seinem eigenen Großreich so Zugang zum Mittelmeer zu verschaffen. Im Sinai-Krieg 1956 lieferte die Sowjetunion Waffen nach Syrien, auch 1967 und 1973, als Syrien und Ägypten die israelische Besetzung des Sinai rückgängig zu machen versuchten. Syrien verlor dabei die Golanhöhen und wurde noch abhängiger von der Sowjetunion. Auch heute sieht Moskau in Damaskus sein Tor in den Nahen Osten. (mit dpa/AFP/n-ost)