Brexit: Zerreißprobe für May und Corbyn
Nicht nur die britische Tory-Partei, sondern auch Labour ist in der Europa-Frage tief gespalten. Ein Kommentar.
Es tun sich bemerkenswerte Dinge in Großbritannien. Dass sich die Regierung und die Opposition Ihrer Majestät zum Wohle des Landes zusammentun, ist ungefähr so selten wie der Titelgewinn einer englischen Mannschaft bei einer Fußball-Weltmeisterschaft. Die britische Politik ist nicht auf die Zusammenarbeit zwischen Regierung und Opposition angelegt. Doch genau dies geschieht gerade bei den Gesprächen, mit denen Regierungschefin Theresa May und der Oppositionsführer Jeremy Corbyn in letzter Minute noch einen No-Deal-Brexit am 12. April abwenden wollen.
Die Kooperation zwischen den regierenden Konservativen und der Labour-Partei stellt eine geradezu revolutionäre Wende in der britischen Innenpolitik dar. Wenn Mays Gesprächsangebot an die Adresse Corbyns mehr ist als eine taktische Finte zur Disziplinierung der eigenen Truppen, dann könnte dies tatsächlich einen Ausweg aus der größten innenpolitischen Krise in Großbritannien seit 1945 weisen.
Bei den Tories hat der Zwist um Europa eine jahrzehntelange Tradition
Die Gespräche könnten aber auch gründlich schief gehen. Das liegt vor allem daran, dass die parteiübergreifenden Verhandlungen eine Zerreißprobe darstellen – sowohl für die Konservativen als auch für die Labour-Partei. Bei den Konservativen verwundert dies nicht weiter, denn die Spaltung der Partei in Europa-Freunde und Gegner der EU hat eine jahrzehntealte Tradition. Aktuell rebellieren die Brexit-Ultras gegen Mays Annäherungskurs, weil sie eine langfristige Anbindung Großbritanniens an die EU scheuen wie der Teufel das Weihwasser.
Überraschenderweise ist aber auch Labour in der Europa-Frage mindestens genauso gespalten wie die Tories. Auf der einen Seite stehen EU-Skeptiker wie Corbyn, die ähnlich wie May vor allem eines wollen: einen möglichst schnellen geregelten Austritt aus der EU. Diese innerparteiliche Strömung repräsentiert nicht zuletzt jene Labour-Wähler, die beim Referendum 2016 vor allem im Norden Englands für den Brexit gestimmt haben. Ihnen steht inzwischen eine wachsende Phalanx jüngerer Labour-Anhänger gegenüber, die Großbritanniens Zukunft weiterhin in der EU sehen. Nicht nur für May, sondern auch für Corbyn hängt die politische Zukunft vom Brexit ab.
Labour-Streit um ein zweites Referendum
Zum Knackpunkt bei den Verhandlungen zwischen May und Corbyn könnte die Frage werden, ob die Briten in einem zweiten Referendum noch einmal über den endgültigen Brexit-Deal mit der EU befragt werden sollen. Viele Labour-Anhänger wollen eine neuerliche Volksabstimmung. Dagegen haben zwei Dutzend Labour-Abgeordnete ihren Parteichef Corbyn aufgefordert, die Forderung nach einem zweiten Referendum zu ignorieren auf statt dessen auf May zuzugehen. Tatsächlich bietet auch ein zweites Referendum keine Gewähr dafür, dass es endlich zu einer Befriedung der britischen Gesellschaft in der Brexit-Frage kommt. Denn was würde passieren, wenn die Briten Mays Deal mit der EU am Ende ablehnen? Dann ginge die ganze Brexit-Saga wohl wieder von vorne los.