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Die Zahl gewaltbereiter Extremisten wächst. Größte Herausforderung bleiben Rechtsextreme.
© IMAGO

Jahresbericht des Verfassungsschutzes: Zahl extremistischer Gewalttaten stark gestiegen

Neonazis, Autonome, Islamisten, fanatisierte Kurden und nationalistische Türken - der Bericht des Verfassungsschutzes zeigt die Ausmaße extremistischer Gewalt im Jahre 2015.

Wie selten zuvor wird die innere Sicherheit der Bundesrepublik durch extremistische Umtriebe gefährdet. Neonazis, Autonome, Islamisten, fanatisierte Kurden und nationalistische Türken hetzen, drohen und scheuen auch nicht vor Gewalt zurück. Deutschland wird zudem von ausländischen Nachrichtendiensten attackiert. In welchem Ausmaß die Feinde der Demokratie agieren, zeigt der Jahresbericht 2015 des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV). Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hat am Dienstag gemeinsam mit BfV-Präsident Hans-Georg Maaßen den mehr als 300 Seiten umfassenden Report in Berlin vorgestellt. Der Tagesspiegel dokumentiert die wesentlichen Aussagen zu Extremismus, Terrorismus und Spionage.

Rechtsextremisten

Die Debatte um den enormen Zustrom von Flüchtlingen hat 2015 nicht nur die Willkommenskultur hervorgebracht, sondern auch einen früher kaum vorstellbaren Aufschwung der rechtsextremen Szene bewirkt. „Der exorbitante Anstieg rechtsextremistischer Gewalt und die zunehmende Anschlussfähigkeit des Rechtsextremismus sind zwei Entwicklungen, die für das Berichtsjahr prägend waren“, sagt das BfV in einer Zusammenfassung des Jahresberichts. Die Anti-Asyl-Agitation sei „zum beherrschenden Thema“ geworden und werde geprägt „von einer schwindenden Abgrenzung zum Rechtsextremismus und einer Akzeptanz von Gewalt und Militanz in Teilen der Bevölkerung“.

Etwa zwei Drittel der Tatverdächtigen, die zu Gewalttaten gegen Flüchtlinge und ihre Unterkünfte ermittelt wurden, „sind in der Vergangenheit weder durch politische motivierte Straftaten noch durch eine strukturelle Anbindung an die rechtsextremistische Szene aufgefallen“. Im Jahresbericht selbst heißt es dann, „mit den im Laufe des Jahres rapide angestiegenen Flüchtlingszahlen gewann die Anti-Asyl-Agitation eine ungeheure Dynamik“. Das BfV warnt denn auch vor der Gefahr rechten Terrors. Im Mai 2015 hob die Polizei die militante Bande „Oldschool Society (OSS)“ aus, sie hatte Anschläge auf Flüchtlinge geplant. Für den Verfassungsschutz ist die OSS der Beleg für das Risiko rechter Fanatisierung über das Internet. Mitglieder der OSS hatten sich bei Facebook kennengelernt. „Die enthemmte Hetze im Internet kann zu einer individuellen und kollektiven Radikalisierung führen“, sagt das Bundesamt.

Die Polizei registrierte 2015 insgesamt 22 960 rechte Straftaten (2014: 17 020), darunter 1485 Gewaltdelikten (1029). Parallel stieg die Zahl der vom BfV als gewaltorientiert eingestuften Rechtsextremisten auf 11 800 (2014: 10 500). Damit ist mehr als die Hälfte aller Rechtsextremisten in der Bundesrepublik (2015: 22 600, 2014: 21 000) zumindest potenziell militant.

Auch kleinere Rechte Parteien im Aufwind

Beim Blick auf das Spektrum fällt auf, dass die vom BfV als „subkulturell geprägte Rechtsextremisten“ bezeichneten Milieus rechter Hooligans, Skinheads und mäßig politisierter Anhänger einschlägiger Musik um 1000 Personen auf nun 8200 zugenommen haben. Bei den hart politisierten Neonazis gab es ein Wachstum um 200 auf 5800. Die NPD konnte sich laut Jahresbericht bei 5200 Mitgliedern „konsolidieren“. Die rechtsextremen Kleinparteien „Die Rechte“ und „Der III. Weg“ sind ebenfalls im Aufwind. „Die Rechte“ hat inzwischen 650 Mitglieder, das sind 150 mehr als 2014. „Der III. Weg“ steigerte sich von 200 auf 300. Beiden Parteien stünden zudem für den Fall eines Verbots der NPD als Auffangbecken für deren „neonazistische Klientel“ bereit, sagt das BfV.

Geschrumpft ist hingegen die betont islamfeindliche Partei „Pro NRW“ (2015: 500 Mitglieder, 2014: 950). Als Grund nennt das BfV interne Streitereien. Im Frühjahr spaltete sich die „Bürgerbewegung Pro Köln“ ab, sie war einst die Keimzelle von „Pro NRW“.

Das BfV erwähnt im Jahresbericht auch Pegida und weitere „Gida“-Gruppierungen. Die Bewegung insgesamt sei „heterogen“ und kein Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes, heißt es. Aber: die „Versuche der Einflussnahme durch Rechtsextremisten“ hat der Nachrichtendienst im Blick. Denn „Intention und Rhetorik der Gida-Bewegung bieten grundsätzliche Anknüpfungspunkte für Rechtsextremisten“. Einige Gida-Gruppierungen hält  das BfV auch schon für rechtsextremistisch eingefärbt. Genannt werden  Thügida in Thüringen und  MVGida in Mecklenburg-Vorpommern - in beiden dominiert die NPD - sowie Magida 2.0 in Magdeburg, Bärgida in Berlin, BraMM-Pegida in Brandenburg und Pegida Franken.

Der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag, Burkhard Lischka, hält es allerdings nicht für ausreichend, im Jahresbericht des BfV nur die Gida-Bewegung zu erwähnen. „Es ist an der Zeit, dass nun endlich auch Teile der ,Alternative für Deutschland‘ durch den Verfassungsschutz beobachtet werden“, sagte Lischka am Dienstag. „Insbesondere die ,Patriotische Plattform‘ innerhalb der AfD hat durch ihren öffentlich vollzogenen Schulterschluss mit der ,Identitären Bewegung‘ deutlich gemacht, dass braune Hetze und menschenverachtender Rassismus einen Platz in der Partei haben“, betonte der SPD-Politiker. Bei der Identitären Bewegung handelt es sich um eine islamfeindliche Vereinigung, die mit betont provokativen Methoden Aufmerksamkeit erringen will.

Islamistische Terroristen und weitere Islamisten

Zentrale Gefahr ist für den Verfassungsschutz die Terrormiliz „Islamischer Staat“. Vor allem die Anschläge im November in Paris „haben uns in Europa eine neue Dimension des Terrors vor Augen geführt“, heißt es in der Kurzfassung des Jahresberichts. Es sei davon auszugehen, „dass der IS Pläne für weitere Anschläge in Europa, und damit auch in Deutschland, verfolgt“. Das BfV  verweist aber auch auf die unvermindert große Gefahr, die von Al Qaida ausgeht.

Auch wenn die Ausreisen von Salafisten zum IS nicht mehr so stark zunehmen wie 2014, sieht das Bundesamt keinen Anlass für Entwarnung. Denn vor allem die Propaganda des IS und weiterer dschihadistischer Gruppierungen in sozialen Netzwerken bereitet große Sorgen. Sie trage „wesentlich zur Radikalisierung insbesondere junger Menschen bei“, heißt es. Und die Dauer der Radikalisierung „bis zum Eintreten für den militanten Kampf“ werde immer kürzer.

Gefährlich ist auch die Agitation der salafistischen Szene – nach neuesten Zahlen inzwischen 8900 Personen – auf der Straße. Die Koranverteilaktion „Lies!“ der Vereinigung „Die Wahre Religion“ sei aus Sicht der Salafisten ein „Erfolgsmodell“, sagt das BfV.  Inzwischen seien etwa drei Millionen Koran-Exemplare verteilt worden. Die im In- und Ausland stetig expandierende Kampagne „entfaltet gerade auf Jugendliche und Heranwachsende eine besondere Anziehungskraft“. Zumal sich auch Salafisten aus dem militanten Spektrum an „Lies!“-Aktionen beteiligen. Laut Bundesamt liegen „vermehrt Hinweise auf Personen vor, die zunächst an den Koranverteilaktionen teilgenommen hatten, um sich danach an den Kämpfen in Syrien zu beteiligen“.

Der Verfassungsschutz beobachtet zudem, dass Islamisten unvermindert versuchen, Flüchtlinge zu agitieren. Als „Anknüpfungspunkt“ bezeichnet das BfV den Antisemitismus. Er sei nicht nur „integraler Bestandteil aller Erscheinungsformen des Islamismus“, sondern generell geeignet, latent vorhandene Ressentiments gegen Juden bei vielen Muslimen zu verstärken.

Das BfV nennt bei den Islamisten keine Gesamtzahl des „Personenpotenzials“ in Deutschland, da bei IS und Al Qaida wie auch bei der legalistischen und in mehrere Vereinigungen aufgespaltenen türkischen Milli-Görüs-Bewegung die Summe der Anhänger unklar bleibt. Einem Teil des Milli-Görüs-Milieus bescheinigt der Verfassungsschutz den Versuch, den Islamismus abzuschwächen. Die Zahl der extremistischen Anhänger bleibt jedoch mit geschätzt 10 000 Personen hoch.

Andere Organisationen sind hingegen besser zu fassen. So wird die Anhängerschaft der libanesischen Terrormiliz „Hisbollah“ in Deutschland auf stabil 950 Personen geschätzt, die der palästinensischen Terrorbewegung Hamas auf 300. Die mit der Hamas zumindest ideologisch verbundene Muslimbruderschaft wird mit 1040 Personen taxiert. 

Aus dem Milieu der Islamisten sowie der anderen Ausländerextremisten wurden 2015 insgesamt 1524 Straftaten mit 235 Gewaltdelikten begangen. Das ist etwas weniger als im Vorjahr.

Weitere ausländische Extremisten

Die  Szene der extremistischen Ausländerorganisationen jenseits des Islamismus war 2015 mit 29 050 Personen fast genauso groß wie im Vorjahr.

Die „mit Abstand aktions- und kampagnenfähigste Organisation“ im Bereich des „säkularen“ Ausländerextremismus ist laut Bundesamt die PKK („Arbeiterpartei Kurdistans“). Ihr werden 14 000 Anhänger zugerechnet. Angesichts des heftigen Konfliktes zwischen der PKK und türkischen Sicherheitskräften sowie der Kämpfe zwischen PKK-nahen Milizen und dem IS in Nordsyrien befürchtet der Verfassungsschutz weiterhin „Stellvertreter-Auseinandersetzungen“ in Deutschland. Anhänger der PKK gerieten 2015 vor allem mit nationalistischen Türken aneinander. Im September kam in Hannover ein Kurde beinahe durch Messerstiche ums Leben. Todesopfer seien nicht auszuschließen, sagt das Bundesamt.

Auf 10 000 Personen schätzt das BfV die Szene der türkischen Rechtextremisten. Bei den sich selbst als „Ülkücü“ (Idealisten) und „Bozkurtlar“ (Graue Wölfe) bezeichnenden Nationalisten zeichnet sich ein Generationenwechsel ab. Ein großer Teil der Ülkücü-Jugend, etwa 3000 Personen, hat sich verselbstständigt – und weiter radikalisiert. Das Milieu ist laut BfV über das Internet vernetzt, in einschlägigen Foren wird die Hinrichtung von Kurden propagiert. „Mit den jugendlichen Anhängern der Ülkücü-Bewegung ist das Potenzial für gewalttätige Auseinandersetzungen vorhanden“, schreibt das Bundesamt im Jahresbericht. Die traditionellen türkischen Rechtsextremisten, ungefähr 7000 Personen, sind in der „Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine (ADÜTDF)“ organisiert.

Linksextremisten und Spionage

Etwas kleiner geworden ist das Spektrum der Linksextremisten, in deutlichem Gegensatz dazu wächst die Militanz. Das Bundesamt zählte 2015 insgesamt 26 700 (Vorjahr: 27 200) Personen, darunter 7700 gewaltorientierte Linksextremisten (2014: 7600). Die meisten Militanten sind Autonome (6300, zuvor 6100). Die Zahl der linken Gewalttaten nahm drastisch zu. Die Polizei stellte 2246 fest (zuvor 1664). Damit stieg auch die Zahl aller linken Straftaten von 8113 auf 9605. Das „Aktions- und Aggressionsniveau“ der gewaltorientierten Autonomen sei beträchtlich gestiegen, sagt das BfV. Das gelte vor allem für Angriffe auf die Polizei und gewalttätige Auseinandersetzungen mit vermeintlichen und tatsächlichen Rechtsextremisten. Das Bundesamt verweist auf die schweren Krawalle im März 2015 bei der Eröffnung des Neubaus der Europäischen Zentralbank in Frankfurt/Main und die Ausschreitungen im Dezember am Rande einer rechtsextremen Kundgebung in Leipzig.  

Das BfV spricht allerdings auch von einem andauernden „Bedeutungsverlust linksextremistischer Positionen, der sich in gesellschaftlicher Marginalisierung und mangelnder Anschlussfähigkeit äußert“. Gewaltorientierte Linksextremisten versuchten deshalb einen „Neuformierungsprozess“. Als die maßgeblichen Akteure nennt das BfV das Bündnis „…ums Ganze!“ und die „Interventionistische Linke“.

Bei den weiteren Vereinigungen fällt auf, dass der „Rote Hilfe e.V.“, der sich um inhaftierte Linksextremisten kümmert, weiter wächst (2015: 7000 Mitglieder, zuvor 6500). Andere Organisationen, wie die DKP und die MLPD sowie die extremistischen Gruppierungen in der Partei „die Linke“, stagnieren.

Spionage

Detaillierter als früheren Jahren befasst sich das Bundesamt in seinem Bericht auch mit der Spionage ausländischer Nachrichtendienste. Und es fällt auf, dass der Nachrichtendienst zumindest indirekt dem Iran die Täuschung der internationalen Staatengemeinschaft vorhält – und der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) Naivität. Das Bundesamt registriert unvermindert und zum Teil sogar gesteigerte Versuche des Mullah-Regimes, in Deutschland an Nukleartechnik und an Komponenten für Trägerraketen heranzukommen. Die Staatengemeinschaft hatte nach langen Verhandlungen im Juli 2015 mit dem Iran den „Joint Comprehensive Plan of Action“ vereinbart, der eine starke Beschränkung und Kontrollen des iranischen Nuklearprogramms vorsieht. Außerdem verkündete die IAEO im Dezember vergangenen Jahres, sie habe nach 2009 hätten keine glaubhaften Hinweise auf Aktivitäten zum Bau von Atomwaffen finden können.

„Die vom BfV festgestellten illegalen iranischen Beschaffungsversuche in Deutschland befanden sich 2015 weiterhin auf einem auch im internationalen Vergleich quantitativ hohen Niveau“, heißt es im Jahresbericht. „Dies galt vor allem für Güter, die im Bereich Nukleartechnik eingesetzt werden können“. Das Bundesamt habe zudem „im Bereich des ambitionierten iranischen Trägertechnologieprogramms, das unter anderem dem Einsatz von Kernwaffen dienen könnte, eine steigende Tendenz der ohnehin schon erheblichen Beschaffungsbemühungen“ festgestellt, heißt es. Deshalb seien weiterhin „intensive Beschaffungsaktivitäten des Iran unter Nutzung konspirativer Methodik in Deutschland zu erwarten“.

Den russischen Nachrichtendiensten bescheinigt das BfV, sie versuchten neben der Beschaffung von Informationen zur Haltung der Bundesregierung zum Ukraine-Konflikt auch zunehmend Einfluss auf „Entscheidungsträger und die öffentliche Meinung in Deutschland zu nehmen“. Das Bundesamt warnt zudem vor Cyberattacken russischer Dienste.

„Elektronische Angriffe“ haben laut BfV auch chinesische Nachrichtendienste verübt. Diese forschten zudem in Deutschland chinesische Oppositionelle aus.

Frank Jansen

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