Deutschland in Europa: Wunschland mit Schattenseiten
Binnenmobilität als Chance und Problem: Fast fünf Millionen Bürger aus dem EU-Ausland arbeiten in der Bundesrepublik.
[Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Beilage "Deutschland in Europa", einem Projekt mit Masterstudierenden der Universität Hamburg]
Wenn Oliviero Blasetti über seine neue Wahlheimat spricht, dann klingt er sehr zufrieden. Vor knapp einem Jahr ist der 31-jährige Architekt von Triest nach Hamburg gezogen, weil er zu Hause keine gute Arbeit fand. „Die Menschen sind gebildet und respektvoll“, sagt er. Die Stadt sei sehr international, „sodass ich mich weniger fremd fühle“. Und vor allem erzielt er hier ein viermal höheres Gehalt als zu Hause.
So wie Blasetti entscheiden sich Millionen EU-Bürger. Die garantierte Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union macht es möglich. Ende 2017 lebten nach Angaben des Europäischen Parlaments 17 Millionen Menschen aus der EU in Mitgliedstaaten, deren Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen. Und Deutschland ist eines der beliebtesten Einwanderungsländer für ausländische Unionsbürger. Doch was bringt diese Mobilität den Binnenmigranten? Und was bedeutet sie für die betroffenen Länder?
Seit 2014 kamen nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) jährlich im Schnitt rund 600 000 EU-Ausländer nach Deutschland. Die gute Beschäftigungssituation und die hohen Löhne seien sogenannte Pull-Faktoren, die maßgeblich zu Deutschlands Attraktivität als Einwanderungsland beitragen, erklärt Karl Brenke, Arbeitsmarktforscher am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Ende des vergangenen Jahres zählte die Bundesagentur für Arbeit, dass knapp 2,2 der insgesamt 4,8 Millionen in Deutschland lebenden EU-Bürger sozialversicherungspflichtig tätig sind. Modellschätzungen des DIW ergaben, dass die Zuwanderung aus EU-Staaten von 2011 bis 2016 erheblich zum Wirtschaftswachstum beigetragen hat. Deutschland profitiert demnach sowohl von den eingenommenen Steuergeldern als auch durch die gesteigerte Konsumnachfrage. Außerdem können Arbeitsmarktengpässe durch die zusätzlichen Arbeitskräfte abgefedert werden.
Deutschland profitiert von der innereuropäischen Mobilität
„Derzeit steht außer Frage, dass Deutschland von der innereuropäischen Mobilität der Arbeitskräfte ausschließlich profitiert“, sagt auch Béla Galgóczi, der am European Trade Union Institute in Brüssel zu dem Thema forscht. Die EU-Osterweiterungen in den Jahren 2004 und 2007 sowie der Beitritt Kroatiens 2013 haben einen großen Effekt auf die Binnenmigration gehabt, resümiert er.
Seitdem die Beschränkungen für rumänische und bulgarische Arbeitnehmer im Jahr 2014 aufgehoben wurden, ist die Zuwanderung aus den beiden Ländern stark gestiegen. Neben den Polen stellen sie die meisten EU-Zuwanderer in Deutschland. Dabei gibt es auch „Push“-Faktoren, wie die hohe Arbeitslosigkeit und die sehr niedrigen Löhne in den Herkunftsländern, die viele Bürger dazu bringen, ihr Glück bei den EU-Nachbarn zu suchen. „Ein polnischer Rezeptionist kann in einem Hotel im Vereinigten Königreich dreimal so viel verdienen wie als Lehrer in Polen in seinem ursprünglichen Job“, kritisiert Gálgóczi. Viele Arbeitnehmer aus Osteuropa arbeiteten in Deutschland in Jobs, für die sie überqualifiziert seien. Häufig liege dies auch daran, dass ihre Ausbildungsabschlüsse nicht anerkannt würden.
Für Länder wie Rumänien bringt die Abwanderung zunächst eine Erleichterung. Die Arbeitslosenquote sinkt, und die mobilen Arbeitnehmer schickten häufig Geld in die Heimat, was wiederum dort die Nachfrage und Kaufkraft stärkt. Auf lange Sicht schadet die Abwanderung von Fachkräften jedoch dem Land: Es fehlen Sozialarbeiter, Ärzte und Lehrer. Die Wirtschaftslage ermögliche aber keine Lohnerhöhungen, um die Arbeitnehmer zu halten, erklärt Janka Vogel, Expertin für Integration in Berlin und Kennerin der rumänischen Migration in Europa.
2019 kamen etwa 195000 Rumänen nach Deutschland
Im Jahr 2018 kamen etwa 195 000 Rumänen nach Deutschland, dreimal mehr als 2011. „Die werden in Rumänien auf Kosten des Staates ausgebildet und wir haben den Vorteil davon“, meint Gerhard Köpernik, Vorsitzender der Deutsch-Rumänischen Gesellschaft. Laurentiu Gheorghe ist einer von ihnen. Studiert hat er in Rumänien, dort gearbeitet allerdings noch nie. „Leider habe ich zu Hause keinen passenden Job gefunden“, sagt er. Die gute Bezahlung, die Qualität des Bildungssystems für die Zukunft seines Sohnes und das bessere Gesundheitssystem führten dazu, dass er sich für das Leben in Deutschland entschied.
Neben der Migration von Osten nach Westen spielt auch die Zuwanderung aus den von der Krise betroffenen südeuropäischen Ländern eine große Rolle für Deutschland. Italien stand im vergangenen Jahr an fünfter Stelle der häufigsten Herkunftsländer. Mehr als die Hälfte der knapp 43 000 zugewanderten Italiener sind zwischen 18 und 35 Jahre alt, denn die Jugendarbeitslosigkeit in ihrem Heimatland ist doppelt so hoch wie im EU-Durchschnitt. „Das ist aber keineswegs die alleinige Motivation der neuen Migranten. Dazu kommt die allgemeine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, die mit der Krise in Italien gekommen ist“, erklärt Luciana Mella. Die Journalistin kam vor 20 Jahren nach Deutschland und engagiert sich für italienische Einwanderer – wie etwa Oliviero Blasetti. Er ist 31 Jahre alt und lebt in Hamburg. Als Architekt im Bausektor tätig, war er durch die Krise direkt betroffen und sah in Italien keine Perspektive für sich. In Deutschland hatte er von Anfang an einen unbefristeten Arbeitsvertrag, gute Karrierechancen und sein Arbeitgeber zahlt seinen Deutschkurs.
Nicht für alle funktioniert die Integration in den deutschen Arbeitsmarkt so reibungslos. Vor allem Arbeitnehmer aus Osteuropa werden häufig Opfer von Diskriminierung und Ausbeutung. Das berichtet der Leiter des Projekts „Faire Mobilität“ des Deutschen Gewerkschaftsbundes, das größtenteils vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales finanziert wird. Es bietet Informations- und Beratungsstellen und vertritt mobile Arbeitnehmer in Deutschland. Die große Mehrheit der Ratsuchenden kommt aus Polen, Rumänien und Bulgarien. Sehr viele von ihnen beklagen, dass sie nicht wie vereinbart bezahlt wurden. Ausländische Beschäftigte seien besonders von Ausbeutung betroffen, weil sie nicht gewerkschaftlich organisiert seien und ihre Rechte häufig nicht kennen und durchsetzen können, erklärt der Projektleiter Dominique John.
In der Gastronomie gelten die Rechte von Arbeitnehmern besonders wenig
Das hat Madalina Orlandea am eigenen Leib erfahren. Vor acht Jahren ist die Rumänin nach Deutschland gekommen. Seitdem hatte sie unzählige Jobs, überwiegend in der Gastronomie und Hotellerie. Dort gelten die Rechte von Arbeitnehmern besonders wenig. Für Menschen ohne Hochschulabschluss, die schnell Geld verdienen müssen, bieten diese Branchen allerdings den besten Einstieg in den hiesigen Arbeitsmarkt.
„Immer wenn ich gemerkt habe, dass ich ausgebeutet werde, habe ich meine Sachen gepackt und einen neuen Job gesucht“, erzählt die Rumänin. Das sei die Regel, bestätigt Dominique John. Deshalb könnten die verantwortlichen Manager davon ausgehen, dass sie mit ihrer systematischen Ausbeutung durchkommen. Schalten sich Vermittler wie jene vom Projekt Faire Mobilität ein, lenken sie meist schnell ein und zahlen aus Angst vor Rufschädigung den unterschlagenen Lohn.
Um weiterhin für Arbeitnehmer aus dem Ausland attraktiv zu bleiben, müssen deutsche Arbeitgeber in Zukunft aber mehr bieten als bisher. Denn infolge des demografischen Wandels wird der Wettbewerb um Arbeitskräfte weiter zunehmen. Außerdem werde sich die wirtschaftliche Lage in vielen Herkunftsländern zunehmend verbessern, erwartet Karl Brenke vom DIW. Deutschland sei wegen des hohen Lohnniveaus derzeit zwar gut aufgestellt. Aber deutsche Unternehmen könnten noch aktiver im Ausland werben, vermehrt Festanstellungen sowie zusätzliche Anreize wie etwa Betriebswohnungen anbieten.
Oliviero Blasetti hat schon jetzt in Deutschland das gefunden, was er gesucht hat. Seit ein paar Monaten lebt auch seine Partnerin in Hamburg. Er schätzt sich glücklich, dass der Neuanfang so gut geklappt hat, aber er weiß, dass das nicht selbstverständlich ist. „Ich danke der Europäischen Union, dass sie mir meinen Weg so viel einfacher gemacht hat“, sagt er.
Ina Bierfreund