Debatte: Wulff, Gauck und das Thema Integration
Es war Christian Wulffs großes Thema. Unter vielen Deutschen migrantischer Herkunft herrscht nun Skepsis, ob Joachim Gauck beim Thema Integration Akzente setzen wird - und wenn ja, welche?
Als Bundeskanzlerin Angela Merkel am Sonntagabend die Anforderungen und Themen des zukünftigen Bundespräsidenten angerissen hat, fiel das Wort Integration nicht. Erst Grünen-Chef Cem Özdemir nahm es in den Mund - ohne allerdings konkreter zu werden. Nun wird in Foren, Blogs und Social Media darüber spekuliert, inwieweit das Thema bei Gauck eine Rolle spielen wird. Unmut hatte er bereits ausgelöst, als er Thilo Sarrazin im Tagesspiegel "Mut" für dessen Thesen attestiert hatte. Daran knüpfen nun viele Kritiker an.
Christian Wulff hatte versucht, das Thema Integration zu seiner Sache zu machen und mit dem Satz "Der Islam gehört zu Deutschland" durchaus Aufsehen erregt. Was kommt nun von Gauck? Der Kandidat selbst war am Montagvormittag für eine Stellungnahme zunächst nicht erreichbar. Aber was erwartet die Community der Deutschen mit migrantischem Hintergrund von ihrem kommenden Bundespräsidenten? Wir haben nachgefragt - und werden weitere Stimmen sammeln.
Die muslimischen Verbände äußerten sich zurückhaltend zum designierten Bundespräsidenten. "Ich habe schon oft erlebt, dass sich Positionen im Amt ändern", sagte der Vorsitzende des Islamrats, Ali Kizilkaya, dem Tagesspiegel. "Das erwarte ich mir auch von Herrn Gauck, wenn er erst zum Bundespräsidenten gewählt ist." Den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu fördern, sei vor allem "Aufgabe des Staatsoberhaupts, dies umso mehr, als ihm seine Unabhängigkeit die Freiheit dazu gibt. Wir hoffen natürlich, dass Herr Gauck den Integrationsansatz seines Vorgängers fortführt, der den Muslimen das Gefühl gegeben hat, dass sie zu Deutschland gehören."
Auch Aiman Mazyek vom Zentralrat der Muslime, sagte: "Ich setze darauf, dass er sich wie sein Vorgänger als Bundespräsident aller Deutschen, also auch der Muslime, versteht. Wir brauchen jetzt mehr denn je einen Versöhner an der Staatsspitze, der ‚Ossis’ und ‚Wessis’, Einheimische und Eingewanderte und die verschiedenen Religionen in unserem Land als Einheit begreift."
"Ich bin über die Haltung des Bundespräsidenten in spe in der Causa Sarrazin unsicher", sagt Kamuran Sezer, Leiter des Dortmunder Instituts “futureorg”, eine auf Trendforschung spezialisierte Denkfabrik für soziale, kulturelle und ethnische Diversität in Deutschland. "Unterstützt er seine Thesen oder nicht? Daher wünsche mir von Herrn Gauck auch vor seiner Wahl zum Bundespräsidenten, dass er sich deutlich und unmissverständlich zu einer offenen, multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft in Deutschland bekennt. Dazu gehört, dass er auf ausgrenzende und spalterische Begriffe wie Parallelgesellschaft und Zuwanderung verzichtet.”
Hilal Sezgin lebt als freie Schriftstellerin und Publizistin in der Lüneburger Heide. Sie ist Mit-Herausgeberin des "Manifests der Vielen", ein Buch von 30 Autoren, das sich gegen die Thesen von Thilo Sarrazin stellt. Sezgin sagt: "Danke, SPD, dass Ihr nicht nur Sarrazin in den eigenen Reihen behaltet, sondern auch noch einen Pro-Sarrazinisten ins Schloss Bellevue katapultiert! Danke, Ihr Grünen, für Euren selbstlosen Einsatz für einen, der noch in Zeiten einer weltweiten Finanzkrise Kapitalismus-kritische Demonstrationen unnötig und albern findet. Glückwunsch an die FDP dafür, dass Ihr überhaupt mal was hingekriegt habt - Ihr seid sicher selbst noch total geschockt, gute Erholung! Dank auch an die CDU für diesen Pfarrer, dem trotz christlichem Demutsgebot der Stolz aus allen Poren tropft, und natürlich an Sie, liebe Frau Merkel, weil Sie das einzige Mal, wo wir wirklich auf Ihre Standfestigkeit vertraut hatten, sofort nachgaben."
Mehr Kritik an der Entscheidung für Gauck - aber auch an einem "banalen Satz" Christian Wulffs.
Eren Güvercin, freier Journalist und Autor, dessen Buch "Neo-Moslems. Portrait einer deutschen Generation" im April bei Herder erscheint, sagt dem Tagesspiegel: "Nach den fragwürdigen Äußerungen Gaucks zu Sarrazin aber auch über die Occupy-Bewegung habe ich keine großen Erwartungen an ihm als Bundespräsidenten. Hauptsache er verhält sich nicht wie ein Elefant im Porzellanladen. Aber ehrlich gesagt brauche ich auch keinen hippen Bundespräsidenten, der den banalen Satz sagt, dass der Islam 'auch ein Teil Deutschlands' sei, um mich als deutscher Muslim irgendwie ganz doll anerkannt zu fühlen."
Die Buchautorin und Tagesspiegel-Kolumnistin Hatice Akyün kritisiert die Entscheidung für Gauck, doch diese Kritik habe gar nichts mit ihrem Migrationshintergrund zu tun. "Erneut erstaunt mich mein Land. Das Versagen der Babyboomer-Generation, die käuflich erscheint, bringt uns den nächsten Pastorenpensionär ins Schloss Bellevue", sagt Akyün. "Nichts gegen den Bürgerrechtler, aber wie bitte soll sich unsere Gesellschaft nach vorne ausrichten, grundsätzliche Fragen beantworten und die immer mehr auseinanderklaffende Lücke im Land zu schließen versuchen, mit einem Präsidenten, der nun wirklich von uns in Westdeutschland geborenen und geprägten Menschen überhaupt keine Ahnung hat? Honorig, das gestehe ich ihm gerne zu. Nur ich fühle mich seltsam einsam durch diese Entscheidung. Nicht wegen meines Migrationshintergrundes, sondern, weil ich wieder eine verpasste Chance sehe. Menschen, mit dem Denken von vorgestern werden uns vor die Nase gesetzt, damit sie uns erklären, wie wir zu funktionieren haben, wo wir es doch schon längst tun."
Ekrem Şenol, Chefredakteur der Kölner Zeitschrift "Migazin" plädiert dafür, Gauck eine Chance zu geben - fordert aber eine klare Stellungnahme des designierten Bundespräsidenten: „Die Frage, ob Gauck Sarrazin auch dann Mut bescheinigt hätte, wenn er im Juni 2010 die Präsidentschaftswahl gegen Christian Wulff gewonnen hätte, wird nur er beantworten können. Und diese Chance sollte man ihm geben. Denn Fakt ist, dass viele, die heute Wulff hinterhertrauern, sich ursprünglich für den SPD- und Grünen-Kandidaten Gauck starkgemacht haben.“
Sineb El Masrar, Autorin des Buches "Muslim Girls - Wer wir sind, wie wir leben" und Herausgeberin der Zeitschrift "Gazelle" lässt sich gerne positiv überraschen: "Integration wird sogenannten Migranten von allen Seiten schmackhaft gemacht; besonders gerne mit dem revolutionären Integrationsmantra, dass Deutsch der Schlüssel zur Integration ist. Diese Formel will uns ja einfach nicht in den Kopf, daher kann sie auch nicht oft genug erwähnt werden. Auch Joachim Gauck hat diese Worte an uns gerichtet. Kurz und knapp. Alles was wir wissen müssen. Und während wir also versuchen das auch endlich zu verinnerlichen, wird er sich entsprechend seinen Themen 'Freiheit' und 'Patriotismus' widmen. Ich hoffe, dass Wulffs Weiterdenken in puncto gesellschaftlicher Zusammenhalt und aktiver gemeinschaftlicher Gestaltung im Hier und Heute noch aufgegriffen wird. Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt."
Özcan Mutlu, Grünen-Bildungsexperte im Berliner Abgeordnetenhaus, meint: "Nichts gegen einen parteipolitisch unabhängigen und freiheitlich denkenden Bundespräsidenten. Aber noch ist Herr Gauck nicht mein Präsident. Er muss erst die Missverständnisse ausräumen und sich klar von seinen Aussagen zu Stuttgart 21, der Occupy-Bewegung und Thilo Sarrazin distanzieren. Wer Sarrazin als mutigen Politiker bezeichnet, hat dessen Thesen offenbar nicht verstanden. Denn wer sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennt, muss auch die Migranten mit einbeziehen. Herr Gauck ist ein kluger Kopf, jetzt muss er diese Missverständnisse ausräumen und der Präsident aller Menschen werden, die in unserem Land leben!"
- mehr in Kürze
Und was meinen Sie, liebe Leserinnen, liebe Leser? Sollte Joachim Gauck das Thema Integration möglichst bald angehen und sich klar positionieren? Was erwarten Sie von ihm als Bundespräsidenten in dieser Hinsicht? Und wie fanden Sie Christian Wulffs Herangehen an das Thema Integration? Kommentieren und diskutieren Sie mit. Nutzen Sie dazu bitte die Kommentarfunktion etwas weiter unten auf dieser Seite.
Andrea Dernbach, Markus Hesselmann