Nach dem Referendum: Wohin steuert die Türkei nach Erdogans Sieg?
Die Mehrheit des Präsidenten ist nicht groß, ihr Zustandekommen fragwürdig, das Verhältnis zum Ausland ramponiert. Und der nächste Wahlkampf in dem gespaltenen Land hat schon begonnen. Eine Analyse.
Recep Tayyip Erdogan hat das Referendum über die Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei gewonnen – doch das unter Aufbietung undemokratischer Methoden erreichte knappe Ergebnis zeigt bei Weitem nicht die starke Unterstützung, die er sich gewünscht hätte.
Wen überzeugt Erdogan, wen nicht?
Besonders die wachsende urbane Bevölkerung unter den 80 Millionen Türken hat sich Erdogan verweigert – damit markiert das Referendum statt einer Periode der Stabilität den Beginn einer neuen Phase der Unsicherheit, mindestens bis zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in zwei Jahren.
Die Skepsis hinsichtlich des Präsidialsystems reicht bis weit in die Regierungspartei AKP hinein. Erdogan wirbt vor allem um die Stimmen konservativer, islamistischer und nationalistischer Wähler – deckt aber offenbar nicht einmal die Breite seiner eigenen Partei ab. Der Präsident und seine konservativ-islamische AKP verloren die drei größten Städte der Türkei: Istanbul, Ankara und Izmir.
Die Hafenstadt Izmir an der Ägäis ist traditionell eine Hochburg der sozialdemokratischen Opposition, die Hauptstadt Ankara jedoch, seit zwei Jahrzehnten von einem AKP-Bürgermeister regiert, sollte Erdogan eine sichere Mehrheit verschaffen. Dort überwog das Nein zu seiner Präsidialverfassung knapp mit 51,2 Prozent. Noch schmerzlicher war die erstmalige Niederlage in der Millionenmetropole Istanbul mit 51,4 Prozent gegen die Verfassungsänderungen.
„Die Koalition mit den Nationalisten der MHP hat nicht funktioniert“, erklärt der Istanbuler Politikwissenschaftler Emre Erdogan. Mit seinen Plänen hat Präsident Erdogan etwa drei Prozentpunkte bei bisherigen AKP-Wählern eingebüßt – und die MHP hat nur drei bis vier Prozentpunkte beigesteuert. Bei Parlamentswahlen gewannen die Nationalisten zuletzt elf Prozent. Der Einbruch im nationalistischen Lager wirkte sich vor allem auch in den Mittelmeerprovinzen aus. Nicht verhindern konnte die AKP auch das mehrheitliche Nein der Kurden im Südosten. Gerettet haben den Präsidenten am Ende die anatolische Provinz und die ebenfalls erzkonservative Schwarzmeerregion.
Was bedeutet das für die innenpolitische Entwicklung der Türkei?
Erdogan hat nur wenige Stunden nach Schließung der Wahllokale am Sonntag den Wahlkampf für 2019 gestartet: Er versprach die Wiedereinführung der Todesstrafe, nötigenfalls mithilfe eines erneuten Referendums – auch dieses Ziel richtet sich an die Nationalisten.
Erdogan und die AKP dürften den Druck auf Andersdenkende weiter erhöhen, um die Opposition schwach zu halten. Denn viel wird bis 2019 davon abhängen, ob die Erdogan-Gegner sich zusammenzuraufen können. Viele Blicke richten sich auf Meral Aksener, eine Ex-Innenministerin, die als Hoffnungsträgerin der Erdogan-kritischen Nationalisten ein Gegengewicht zu ihm bilden könnte. Sollte es ihr oder anderen Oppositionsvertretern gelingen, sich als glaubwürdige Alternative zu empfehlen, könnte 2019, ausgerechnet in dem Moment, in dem das eigens für ihn erdachte Präsidialsystem in Kraft treten soll, das Amt an einen anderen Politiker gehen. Inzwischen hat in der Türkei aber auch schon eine Debatte über vorzeitige Neuwahlen begonnen.
Was folgt aus Erdogans Sieg für das Verhältnis der Türkei zum Ausland?
Wie schon in den vergangenen Monaten wird für Erdogan auch in den kommenden Monaten die innenpolitische Lage wesentlich wichtiger sein als die Außenbeziehungen des Landes. In den Beziehungen mit den USA deutet sich an, dass Erdogan die Legende von einer Einmischung amerikanischer Geheimdienste in den Putschversuch des vergangenen Jahres weiter nähren will, um die Nationalisten bei der Stange zu halten.
Und Krach mit dem Westen ist für Erdogan eher gut als schlecht: Wenn westliche Wahlbeobachter nach der Abstimmung vom Sonntag beklagen, ihnen sei der Zugang zu Wahllokalen verwehrt worden, bestärkt das die Anhänger des Präsidenten nur in der Auffassung, Europa und die USA wollten sich in die inneren Angelegenheiten ihres Landes einmischen. Konkret kann der Westen auch der Verlängerung des seit dem Putschversuch verhängten Ausnahmezustands kaum plausibel widersprechen: Auch in Frankreich beginnt in wenigen Tagen die Präsidentenwahl unter dem nach terroristischen Anschlägen ausgerufen Ausnahmezustand, der bestimmte demokratische Rechte und Regeln einschränkt.
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