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Anhänger des "Nein"-Lagers protestieren am Ostersonntag gegen das Ergebnis des Referendums.
© Str/AP/dpa

Türkei nach dem Referendum: Erdogans Sieg ist eine Niederlage

Die gute Nachricht: Knapp die Hälfte der Türken hat Erdogan die Gefolgschaft verweigert. Vor allem ihnen sollte Europa nun Unterstützung zusichern. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Antje Sirleschtov

Dieser Sieg ist eine Niederlage. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat sein Volk am Sonntag in ein Referendum gedrängt, das ihm beinahe uneingeschränkte Macht über die Strukturen seines Landes, über Parlament und Justiz, verschaffen kann. Er hat hunderttausende Menschen mit Verfolgung bedroht, er hat seine Widersacher ins Gefängnis gebracht, hat Angst gesät, Fernsehsender für seine Interessen missbraucht, jedwede demokratische Spielregel für eine Wahl missachtet und womöglich sogar die Wahl manipuliert. Und trotzdem haben am Sonntag knapp die Hälfte der Türken ihrem Staatsoberhaupt die Gefolgschaft verweigert.

Ja, Erdogans Referendum zur Einführung einer präsidialen Autokratie fand eine hauchdünne Mehrheit. Was sie aber nicht gefunden hat, das ist die Unterstützung der Türken. Ganz offensichtlich konnten weder Drohungen noch Einschüchterungen die Türken davon abhalten, zur Abstimmung zu gehen und ihrem Präsidenten die Grenzen aufzuzeigen. Das ist die gute Botschaft vom Ostersonntag: Die Menschen in der Türkei misstrauen dem Mann, der ihren Staat für seine Interessen kapern will und dem dabei jedes Mittel recht ist.

Erdogan nicht sofort den Stuhl vor die Tür setzen

Das riesige Land in der Nachbarschaft Europas wird nach dem Verfassungsreferendum nicht zur Ruhe kommen. Sein Präsident hat es in eine Auseinandersetzung getrieben, die zur Spaltung bis tief in die Gesellschaft geführt hat. Das Ergebnis wird ihn selbst zu noch größerer Härte treiben. Schon wenige Minuten nach der Bekanntgabe kündigte Erdogan die nächste Abstimmung – über die Einführung der Todesstrafe – an, was die Konflikte mit seinen Gegnern weiter schüren wird.

Da, wo Außenstehende sich engagiert eingemischt haben, hat dies den Nationalstolz besonders stark bewegt, mit Ja zu stimmen. Die Wahl ist auch eine Trotzreaktion.

schreibt NutzerIn hoetzendorfer

Auf die westliche Staatengemeinschaft, auf Europa, kommen nun harte Zeiten zu. Es gilt, dem türkischen Machthaber nicht sofort den Stuhl vor die Tür zu setzen. Die Beitrittsgespräche der Türkei zur EU jetzt abzubrechen würde weiteres Öl ins Feuer des Machthabers in Ankara gießen und ihm Anlass zu noch härterer Abschottungspolitik bieten. Das Modell Europa basiert auf dem Prinzip von Verhandlungen und nicht Konfrontation. Das gilt im Inneren und sollte auch das Verhältnis mit den Nachbarn prägen, die den Weg nach Europa suchen. Auch, wenn dieser nicht geradlinig verläuft.

Abstimmung über Todesstrafe bestimmt Entwicklung der Türkei

Zugleich darf Europa seine demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien nicht aufweichen. Jedes Beitrittskapitel, jede erreichte Annäherung, muss nun vor dem Hintergrund dessen, was der türkische Präsident aus dem Ausgang des Verfassungsreferendums ableitet, überprüft werden. Ganz klar muss dabei werden: Wer nach Europa drängt, muss dessen Werte akzeptieren. Und ob das türkische Volk den Weg nach Europa sucht, wird sich spätestens mit dessen Verhältnis zur Todesstrafe herausstellen.

Der wirkungsvollste Hebel für die Europäer und die westlichen Bündnispartner ist auf jeden Fall die wirtschaftliche Zusammenarbeit. Erdogan hat seinen Machtanspruch mit dem Versprechen größeren Wohlstandes für seine Bevölkerung verknüpft. Dazu braucht er Partner, dazu braucht er Europa und vor allem die Deutschen – die nun jeden weiteren Schritt vor dem Hintergrund der Einhaltung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit prüfen müssen.

Für Brüssel und Berlin heißt es jetzt auf jeden Fall: Kluge Botschaften in Richtung Ankara senden. Insbesondere an die Hälfte der Türken, die sich dem Druck ihres Staatsführers nicht gebeugt haben. Ihnen, der Zivilgesellschaft, Unterstützung zu signalisieren, dass entspräche dem europäischen Gedanken am meisten.

Wie bewerten Sie den Ausgang des türkischen Referendums? Das Meinungsforschungsinstitut Civey, Tagesspiegel-Kooperationspartner, hat dazu eine aktuelle Umfrage erstellt. Wenn Sie sich registrieren, tragen Sie zu besseren Ergebnissen bei. Mehr Informationen zu Civey finden Sie hier.

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