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Kurden auf der Flucht in Südostanatolien.
© Reuters

Midyat in der Türkei: Wo Zehntausende Kurden Zuflucht finden

Die türkische Armee und die PKK liefern sich im neuen Kurdenkrieg wieder schwere Gefechte. Das südostanatolische Midyat verweigert sich dem Kampf - und ist eine Rettung für viele. Ein Besuch.

Überall in Midyat hocken die Männer und warten. Wie ein Vogelschwarm, der sich zögernd niedergelassen hat und gleich wieder aufflattern wird, sitzen sie vor der Moschee, auf dem Marktplatz, am Busbahnhof, auf den Gehsteigen und den Grünstreifen. Vom Stadtrand aus ist entfernt der Geschützdonner aus der südlichen Nachbarstadt Nusaybin zu hören, wo sich kurdische Rebellen und türkische Sicherheitskräfte schwere Kämpfe liefern.

Totenstill ist es dagegen im Osten geworden, wo bis vor ein paar Tagen noch die Schlacht um die nahe Kleinstadt Idil tobte und die Städte Cizre und Silopi in Schutt und Asche liegen. In der Altstadt von Midyat wird jedes Geräusch vom Rattern der Pferdewagen und Hupen der Sammeltaxis übertönt. Die Männer auf den Gehsteigen und Grünstreifen halten sich an ihren Gebetsperlen fest und warten auf Nachricht aus der Heimat.

Abdullah Bulduk ist einer der wenigen, die schon Näheres erfahren konnten. „Mein Haus ist zerstört, es ist nichts davon übrig“, sagt der 61-jährige Fernfahrer aus Idil, der vor dem Busbahnhof sitzt. „Unser Ortsvorsteher war zur Besichtigung dort - er hat es mir gesagt.“ Mehr weiß Bulduk nicht. In seiner 50 Kilometer entfernten Heimatstadt wird seit zwei Monaten gekämpft, es herrscht Ausnahmezustand und niemand darf hinein oder heraus.

Bulduk und die anderen Männer sind Opfer des neuen Kurdenkrieges in der Türkei. Die PKK-Rebellen und die türkischen Sicherheitskräfte kämpfen in Südostanatolien seit Monaten, mehrere tausend Zivilisten, Soldaten, Polizisten und Kurdenkämpfer starben bereits. Ein zweijähriger Waffenstillstand war im vergangenen Sommer zerbrochen - die Hoffnung auf Frieden im Kurdengebiet ist dahin.

Warten auf Nachrichten

Bulduk sitzt nun jeden Tag hier und wartet auf Nachricht, dass er nach Hause darf. Mit Ehefrau, Kindern und Enkeln ist er aus Idil geflohen, als die Kämpfe begannen. Die achtköpfige Familie ist bei einer Tochter untergekommen, die in Midyat verheiratet ist, und kann sich damit glücklicher schätzen als viele andere. Die Stadt ist längst hoffnungslos überfüllt: Rund 30.000 Menschen aus Idil, Cizre und Nusaybin haben seit Jahresbeginn Zuflucht in dem Städtchen gesucht, das normalerweise 70.000 Einwohner zählt und außerdem noch 10.000 syrische Flüchtlinge beherbergt. Vom Wohnraum bis zu den Sitzgelegenheiten in den Parks - alles ist inzwischen knapp.

„Wir hatten Befürchtungen, dass die Einwohner von Midyat unter dieser Last ermüden könnten, aber sie tragen sie mit großem Herzen“, sagt der Landrat von Midyat, Oguzhan Bingöl, der die Hilfeleistungen für die Flüchtlinge aus dem eigenen Land koordiniert. 4000 Kinder aus den umliegenden Bezirken haben die Schulen von Midyat seit Jahresbeginn aufgenommen - in manchen Schulen sind die Keller zu Klassenzimmern umfunktioniert worden, berichten Einwohner. „Wir eröffnen zusätzliche Klassen, wir stellen zusätzliche Lehrer ein, und wir vergrößern bestehende Klassen“, bestätigt der Landrat. „Darunter leidet vielleicht die Qualität, aber das nehmen wir in Kauf, damit die ankommenden Kinder nicht ohne Schulbildung bleiben.“

Rauchende Trümmerhaufen

Unter den neuen Schülern sind auch die vier Kinder von Abdulkerim Gönenc, der auf dem Bürgersteig vor der Moschee hockt und mit anderen Flüchtlingen aus Nusaybin die Gerüchte aus der Heimatstadt diskutiert. Mehr als 150 Rebellen und Soldaten sind nach Regierungsangaben alleine in den letzten zwei Wochen bei den Kämpfen in Nusaybin getötet worden. Einzelne Fotos, die aus der umkämpften Stadt nach außen dringen, zeigen rauchende Trümmerhaufen, wo bisher Häuser, Geschäfte, Banken und Schulen standen - in die Luft gejagt von den Sprengfallen der PKK und zerschossen vom Artilleriefeuer des türkischen Militärs.

Abdulkerim Gönenc weiß nicht, ob sein Haus noch steht. Im Moment hat er auch andere Sorgen. „Gut, die Kinder gehen zur Schule, aber wie soll ich sie ernähren?“ Der 44-Jährige hat als Schlosser auf dem Gemüsegroßmarkt von Nusaybin gearbeitet, bis auch der Markt beschossen wurde und die Einwohner des Stadtviertels um ihr Leben liefen. „Wir haben alles zurücklassen müssen, unsere Möbel, unsere Sachen - wir sind mit nichts als den Kleidern am Leib gekommen“, sagt der Kurde.

"Keiner weiß, wann wir heimkehren können"

Die Familie hat zwar eine Unterkunft in Midyat bekommen, zwei Zimmer für acht Personen - einschließlich der Schwiegereltern -, doch die Miete kostet monatlich 400 Lira (125 Euro). Im vergangenen Monat hat er das Geld von einem Freund leihen können; seine Frau hat eine Spende von einer wohltätigen Stiftung ergattert, von der die Familie sich Lebensmittel gekauft hat. Doch nun ist das Geld aufgebraucht, eine neue Miete wird fällig, und in Nusaybin wird weiter gekämpft.

Wie lange das so weitergehen wird, kann keiner hier sagen - und doch ist es das Hauptgesprächsthema der Männer auf der Straße. „Keiner weiß, wann wir heimkehren können, jeden Tag heißt es etwas anderes“, sagt ein älterer Herr mit dem gemusterten Kopftuch der stammestreuen Kurden, der im Park neben der Moschee sitzt. Der 67-jährige Ladenbesitzer ist mit seiner 19-köpfigen Familie schon zwei Monate in Midyat und wartet ungeduldig auf Nachrichten aus Idil. Ausgerechnet sein Porzellanwarenladen, so hat er gerüchteweise gehört, soll die Bomben und Geschütze dort unversehrt überstanden haben. Was aus seinem Haus geworden ist, weiß er nicht.

Insel der Ruhe

Der Muezzin räuspert sich durch den Lautsprecher des Minaretts für seinen Gebetsruf, ein Lastwagen hupt eine verirrte Kuh von der Straße, die ersten Kinder hüpfen auf dem Heimweg aus der Schule vorbei. Rings um die wartenden Männer fließt der Alltag der verträumten Kleinstadt weiter. Nicht zufällig ist dieses Städtchen zur Insel der Ruhe und Zuflucht im Kriegslärm von Südostanatolien geworden.

Midyat hat als einzige Stadt den multikulturellen Charakter bewahrt, der vor hundert Jahren noch die ganze Region prägte. Aramäer, Assyrer, Araber, Jesiden und Mhallemi leben hier in größeren Gruppen, während die umliegenden Städte inzwischen fast ausschließlich von Kurden besiedelt sind - das Ergebnis eines jahrzehntelangen Verdrängungsprozesses, der mit dem Völkermord von 1915 begann und vom PKK-Krieg der 80er und 90er Jahre besiegelt wurde.

Das Städtchen pfeift auf Parteipolitik

Nur in Midyat wandern heute noch Menschen mit so unterschiedlichen Kopftrachten über den Marktplatz, und nirgends sonst im Südosten hat die PKK so wenig Rückhalt wie hier. Das Städtchen pfeift auf Parteipolitik und wählt seit bald 20 Jahren immer denselben Bürgermeister, der sein Parteibuch stets mit der Regierung wechselt.

Als PKK-Milizionäre im vergangenen Jahr begannen, die umliegenden Städte zu kurdischen Autonomiezonen zu erklären und Schützengräben in den Straßen auszuheben, verweigerten sich die Einwohner von Midyat und jagten die Propagandisten davon. Kein PKK-Kämpfer würde es wagen, mit dem Bagger in Midyat aufzukreuzen, sagt ein christlicher Einwohner. Dafür hat Midyat jetzt auch nicht die türkischen Einsatzkräfte von Polizei und Militär am Hals, die anderswo mit schwerem Kriegsgerät auf die Rebellen schießen und dabei ganze Stadtviertel zertrümmern.

„Ich lebte bisher in einem Wohnblock in Nusaybin, da wohnten 17 Familien drin“, erzählt ein Mittdreißiger namens Felemez Kartal, der bis zu seiner Flucht als Gehilfe bei einem Makler in Nusaybin arbeitete. „In dem Gebäude ist keine einzige Familie mehr, und die Soldaten haben jede einzelne Wohnung aufgebrochen“ - um nach Scharfschützen zu suchen. Kartal ist mit seiner Frau bei Verwandten auf dem Dorf untergekommen. Nach Midyat kommt er jeden Tag, um auf Nachrichten aus seiner Heimatstadt zu warten. seine Kinder hat er bei Verwandten in der Provinzhauptstadt Mardin untergebracht, damit sie weiter zur Schule gehen können. „Aber für die Kinder ist es entsetzlich schwer, jetzt auch noch getrennt von ihrer Mutter zu sein“, sagt Kartal.

Die Regierung verspricht beispiellosen Wiederaufbau

Dass der Staat solche Anstrengungen unternimmt, die Kinder in Schulen unterzubringen, halten manche der Männer für ein Zeichen dafür, dass es noch länger dauern wird, bis sie heimkehren können, selbst wenn die Auseinandersetzungen irgendwann enden sollten. In Cizre, 90 Kilometer entfernt, wird seit einem Monat nicht mehr gekämpft, doch die Stadt ist in weiten Teilen unbewohnbar.

Fast 3000 Gebäude sind zerstört, das hat eine Kommission des Wohnungsbauministeriums festgestellt. Wegen ungeräumter Sprengfallen und herumliegender Munition bleibt es in den Straßen lebensgefährlich. Erst kürzlich wurden in Cizre wieder zwei Kinder getötet, als sie in den Trümmern spielten und dabei eine Explosion auslösten. „Und selbst wenn wir zurückkehren dürfen, wo sollen wir schlafen, wenn unser Haus fort ist?“, fragt Abdulkerim Gönenc. „Ich habe nicht einmal Geld, uns ein Zelt zu kaufen.“

Die Regierung hat den Einwohnern der zerstörten Städte einen beispiellosen Wiederaufbau versprochen. Die Regionalhauptstadt Diyarbakir, deren Jahrtausende alter Stadtkern nach monatelangen Kämpfen in Trümmern liegt, werde „so schön wie Toledo“ restauriert, versprach Ministerpräsident Ahmet Davutoglu kürzlich, und auch die anderen Städte sollten schöner werden als zuvor. In Diyarbakir und Silopi beschlagnahmte das Kabinett dafür bereits weite Teile der Altstädte, indem es sie im Eilverfahren verstaatlichen ließ. 6300 Parzellen wurden vergangene Woche alleine in der Altstadt von Diyarbakir enteignet, darunter Kulturdenkmäler, Hotels und alle Kirchen der Stadt.

Verzweifeln in Wohnblocks

Abdulkerim Gönenc glaubt nicht daran, dass das für seine Familie gut enden wird. „Ich war immer ein vergnügter Mensch, habe mich am Leben gefreut und nicht um die Zukunft gesorgt“, sagt Gönenc. „Ich hatte vor, niemals im Leben zu weinen, aber das ist jetzt vorbei. Ich glaube, es wäre besser für uns, wenn wir nie geboren wären, denn so kann man nicht leben.“

Wie der Wiederaufbau vonstatten gehen wird, das könne er sich schon denken, sagt er und zeigt nach Norden, wo für die Staudämme am nahen Tigris immer wieder Dörfer geflutet worden sind. Die Schäfer und Bauern aus den Dörfern verzweifeln heute in zehn- oder zwölfstöckigen Betonwohnblocks in entlegenen Neubausiedlungen ohne Verkehrsanbindung oder Infrastruktur. „So werden sie auch uns 20 Stockwerke hoch stapeln, jeder bekommt zwei, drei Zimmer und fertig“, sagt Gönenc.

In Nusaybin hatte seine Familie bisher ein kleines Häuschen mit Garten, alles zusammen nur 500 Quadratmeter. „Im Garten wuchsen Blumen, und wenn ich sie gegossen habe und ihren Duft geatmet habe, dann war ich glücklich", sagt der Schlosser. Sehnsucht liegt in seinen Augen. „Wenn der Staat mir so eine Etagenwohnung in einem zehn- oder zwanzigstöckigen Wohnblock zuweist, wird es dann dasselbe Leben sein? Niemals.“

"Wir warten, bis es vorbei ist"

Wie wird es weitergehen für Gönenc und seine Schicksalsgenossen? Nicht nur in Midyat warten die Vertriebenen aus den umkämpften Städten. Im gesamten Südosten der Türkei sind nach Angaben der Regierung mehr als 350 000 Menschen auf der Flucht. Der Chef der Kurdenpartei HDP, Selahattin Demirtas, drohte kürzlich in einem Bericht der Presseagentur dpa, sie könnten bald alle nach Europa kommen. Offenbar ein Versuch, die Europäer aufzurütteln und zur Intervention in dem Konflikt zu animieren.

Doch Gönenc zuckt nur die Schultern. „Nach Europa, wie soll ich da hinkommen, dafür habe ich doch kein Geld“, sagt er. Nicht einmal die Gebühr für einen Reisepass könne er aufbringen. „Wenn ich das Geld hätte, wäre ich doch schon vor zehn oder zwanzig Jahren gegangen. Nein, wir warten, bis es vorbei ist.“

Die anderen Männer stimmen ihm zu. „Nein, es gibt keinen Ausweg für uns, wir müssen hier bleiben“, sagt Felemez Kartal. Auch die Männer aus Idil schütteln alle den Kopf. „Wir haben überhaupt kein Geld, irgendwohin zu gehen“, sagt Abdurrahim Ufak, ein junger Arbeiter. „Wir haben keine Wahl.“

Dieser Text erschien am 6. April 2016 im gedruckten Tagesspiegel.

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