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Meinungsforscher zählen 251 EU-Skeptiker im Europaparlament. Das ist ein Drittel aller Abgeordneten.
© Frederick Florin/AFP

AfD im Europaparlament: Wo die Rechtspopulisten unglücklich vereint sind

Die Fraktion der Rechtspopulisten in Straßburg ist groß wie nie. Nun gehört auch Guido Reil dazu. Dabei will seine AfD das EU-Parlament abschaffen.

Guido Reil findet alles ziemlich absurd. Besonders die Sache mit der Glühbirne. Der wuchtige AfD-Abgeordnete sitzt in der Blümchenbar des Europäischen Parlaments, die wegen ihres geblümten Fußbodens so heißt, und tippt auf seinem Mobiltelefon. Dann hat er das Bild gefunden. Er hält sein Handy hin. „Diese Glühbirne hing in meiner Wohnung in Brüssel, als ich sie bekommen habe. Erstbezug! Wissen Sie, wie lange die in Deutschland schon verboten sind? Und wissen Sie, warum die verboten sind?“ Reil guckt erwartungsvoll und antwortet dann selbst. „Wegen der EU-Verordnung. Aber dann hängt eine in Brüssel an der Decke. Es ist unfassbar. Solche Sachen fallen mir auf.“ Reil lacht.

Es ist Reils erster Tag in Straßburg, einen Abend vor der konstituierenden Sitzung des Parlaments in der vergangenen Woche. Der gelernte Bergmann hat irgendwie den Weg durch die labyrinthartigen Gänge des Gebäudes gefunden, sein Büro bezogen. Das Sprachengewirr, das Parlamentsgebäude mit seinem 60 Meter hohen Turm und den 1133 Büros – Reil musste an Babylon denken. „Der Laden ist völlig aufgebläht“, sagt der 49-Jährige und schüttelt den Kopf. In seinem neuen Leben als Europaabgeordneter anzukommen, heißt für ihn erstmal, sich seine Vorurteile zu bestätigen. Davon gibt es viele.

Die AfD ist angetreten, um das Europäische Parlament abzuschaffen. So steht es in ihrem Wahlprogramm. AfD-Funktionäre verunglimpfen die EU gern als „zentralistisches Monster“ oder „Irrenhaus“. Jetzt sind die deutschen Rechtspopulisten zu elft in dem Parlament angekommen, das es auch ihrer Sicht nach gar nicht geben dürfte. Die Marschrichtung hat Reil im Europawahlkampf beschrieben: „Man kann von innen immer viel besser was kaputt machen, als von draußen.“

Die AfDler gehören in Straßburg und Brüssel einer Rechtspopulistenfraktion an, die mit 73 Mitgliedern zwar nicht so groß ist, wie von der AfD erhofft, aber dennoch die größte, die es im Europaparlament je gab. Auch außerhalb dieser Fraktion sitzen EU-Feinde und rechtsnationale Parteien.

Die Meinungsforschungsplattform „Poll of Polls“ kommt auf 251 EU-Skeptiker im Europaparlament – also insgesamt genau ein Drittel aller Abgeordneten. Und das in einer Zeit, in der das Parlament um seine Selbstbehauptung kämpft und sich die Institutionen der EU gegenseitig zu blockieren drohen. Nicht umsonst war vor der Europawahl von einer Schicksalswahl die Rede. Was können die Rechtspopulisten hier ausrichten?

"Erstmal möchte ich das Plenum finden"

Kurz vor der konstituierenden Sitzung des Parlaments sitzt Guido Reil in seinem noch kahlen Büro. Sein übliches weißes Kurzarmhemd hat er gegen ein dunkelblaues Jacket und ein passendes Anzughemd getauscht. Ein Kamerateam des WDR wartet vor seiner Tür. Die Journalisten begleiten Reil in den Aufzug. „Was wollen Sie hier im Europaparlament erreichen?“, fragt ein Reporter. Reil sagt: „Erstmal möchte ich das Plenum finden. Wenn ich das schaff’, find ich das schon mal gut.“

Guido Reil.
Guido Reil.
© imago images / ZUMA Press

Bislang hatte die AfD im Europaparlament kaum etwas zu sagen. Schon kurz nach ihrem Einzug zerlegte sie sich bei ihrem Parteitag in Essen 2015. Die Abgeordneten rund um Bernd Lucke und Hans-Olaf Henkel traten aus der Partei aus. Später verließ auch der Europaabgeordnete Marcus Pretzell die AfD. Die letzte verbliebene Abgeordnete Beatrix von Storch wechselte in den Bundestag. So kam es, dass Parteichef Jörg Meuthen 2017 als Nachrücker ins Europaparlament einzog, ein Einzelkämpfer ohne Einfluss.

Jetzt, mit der neuen Fraktion, soll das, wenn es nach Meuthen geht, anders sein. Der Parteichef steht vergangene Woche vor der Member’s Bar im Europaparlament, einer Bar, die den Abgeordneten und ihren Gästen vorbehalten ist. Ein Mitarbeiter neben ihm deutet auf einen älteren Mann mit Sonnenhut und -brille, der mit seinem ledernen Koffer den Gang hinunter trottet. Es ist Henkel, Meuthens früherer Parteikollege. Er hat seinen letzten Tag. Meuthen schaut ihm lächelnd hinterher. „Und tschüss“, sagt er leise.

Meuthen ist guter Stimmung. In der Member’s Bar erzählt er die Anekdote, die er gern bringt, wenn es um das Ziel der AfD geht, das EU-Parlament abzuschaffen. Er habe als Ministerialbeamter für fünf Gremien gearbeitet, sagt Meuthen. „Dann kam der Staatssekretär und sagte: Jeder soll mal prüfen, welche Gremien hier entbehrlich sind. Ich hab gesagt: Alle fünf.“ Meuthen scheut sich nicht, den Ast abzusägen, auf dem er sitzt.

Er blickt sich in der Bar um. „Es gibt hier so eine Art Corpsgeist. Hier sitzen dann Linke mit welchen von der CDU zusammen, duzen sich und alle sind very best friends.“ Eins seiner ersten Erlebnisse als Abgeordneter sei gewesen, dass ein CDU-Abgeordneter zu ihm sagte: „Willkommen im Club“. „Ich hab ihm jetzt nicht gesagt: I don’t wanna join your club. Aber so ist es“, erzählt Meuthen.

Für die Rechtspopulisten ist er ein Glücksfall

Der Wirtschaftsprofessor ist jetzt stellvertretender Vorsitzender der Fraktion „Identität und Demokratie“ (ID) – einem Zusammenschluss von Rechtspopulisten, Nationalisten und Rechtsextremen. Einige noch radikaler als die AfD. Mit dabei: der französische Rassemblement National, die italienische Lega, die belgische Vlaams Belang, die österreichische FPÖ sowie Parteien aus Dänemark, Estland, Tschechien und Finnland. Meuthen und der italienische Innenminister Matteo Salvini hatten im Wahlkampf von einer „Superfraktion“ gesprochen. Gereicht hat es nur für die fünfgrößte Fraktion. Der Chef der britischen Brexit-Party, Nigel Farage, will nicht mitmachen. Genauso wenig wie die polnische PiS-Partei und die Fidesz des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán.

Weil die AfD nur mit elf Abgeordneten eingezogen ist, ist der Einfluss Meuthens immer noch begrenzt. Fraktionsvorsitzender ist der Italiener Marco Zanni. Auch der Franzose Nicolas Bay vom französischen Rassemblement National bringt mit 20 Abgeordneten eine größere Delegation mit. Meuthen versucht jetzt seine Stellung zu stärken, indem er weiter das Gespräch sucht mit Politikern anderer rechter Parteien. Er hofft, dass sich so mit der Zeit doch noch mehr der Fraktion anschließen. „Das, was uns mit den Parteien in unserer Fraktion oder mit Fidesz verbindet, ist die Antwort auf die Frage: Was soll die EU sein? Für uns ist die EU ein Zweckbündnis“, sagt er.

Strippenziehen, Stimmen organisieren: Guido Reil ist das fremd. Der Mann aus dem Ruhrpott stand zwar direkt hinter Meuthen auf der Europaliste, dennoch liegen Welten zwischen den beiden.

26 Jahre war Reil in der SPD, er arbeitete unter Tage, als Kommunalpolitiker saß er im Rat der Stadt Essen, engagierte sich in der Gewerkschaft und im Betriebsrat. Dann überwarf er sich während der Flüchtlingskrise mit seiner Partei – als in den ärmeren Essener Norden ein Flüchtlingsheim gebaut werden sollte. Guido Reils Eintritt in die AfD sorgte für Aufsehen. Für die Rechtspopulisten ist er ein Glücksfall: Ihm glauben die Menschen, dass die Partei Politik für die kleinen Leute macht, auch wenn Parteichef Jörg Meuthen ein Wirtschaftsliberaler ist, der die gesetzliche Rentenversicherung abschaffen will.

Im Landtagswahlkampf reibt sich Reil für die AfD auf, in der Lokalpresse heißt es, dass er eine Art „Maskottchen“ für die Rechtspopulisten sei. Reil fährt mit einem blauen VW-Bus durch die Gegend, auf dem steht „Der Steiger kommt! Guido on tour“. Er holt die AfD-Prominenz ins Ruhrgebiet, macht Werbung bei der Arbeiterschicht. Im Essener Norden kommt die AfD auf mehr als 20 Prozent. Trotzdem schafft es Reil nicht in den Landtag, sein Listenplatz ist zu schlecht.

Die große Bühne ist unbarmherzig

Reil überzeugt auf der Straße, beim Stammtisch. Dass er schließlich fürs Europaparlament im Gespräch ist, liegt auch daran, dass allen klar ist: Reil soll nicht länger leer ausgehen. Doch es gibt Kritik daran. Reil passe nicht ins Europaparlament, spreche zu schlecht Englisch, kritisieren einige in der AfD.

Reil geht die Kritik in seinem Bewerbungsvideo für Listenplatz zwei direkt an. Der Grund, warum einige es nicht so gut fänden, wenn er nach Brüssel ginge, sei ein ganz einfacher: „Ich bin doof, und Doofe haben da nichts zu suchen.“

Die Karte spielt er auch auf dem Europaparteitag der AfD nochmal: „Was ist das für ein Parlament“, fragt Reil, „in dem normale Menschen mit einer normalen Schulbildung nicht mehr klarkommen? Da muss doch irgendetwas falsch sein mit diesem Parlament.“ Er werde die „Stimme des Volkes in Brüssel sein“. Er werde nicht abheben. „Diese Dekadenz in Brüssel, die widert mich an. Ich werde mich nicht abends an den VIP-Buffets gütlich tun und da Champagner saufen.“ Am Ende ruft er: „Seid mutig, seid alternativ. Wählt einen Arbeiter ins Europaparlament.“ Das zieht bei den Delegierten.

Doch wie unbarmherzig die große Bühne sein kann, erlebt Reil bei Markus Lanz. Er sitzt in der Talk-Sendung mit Juso-Chef Kevin Kühnert. „Ich will ins EU-Parlament um zu entlarven, dass die nicht arbeiten und dafür zu viel Geld kriegen“, sagt Reil dort. Entlarvend sind aber vor allem seine eigenen Aussagen etwa über den Klimawandel. Auf die Frage, welche Wissenschaftler denn wie die AfD am menschengemachten Klimawandel zweifelten, weiß er keine Antwort. Dann sagt er: „Also das Klimathema ist jetzt nicht mein Thema. Ich bin Bergmann, ich kann Ihnen etwas über Kohle erzählen.“ Der Spott ist groß.

Jetzt will Reil die Sache professioneller angehen. Er will die sozialen Medien nutzen, Videos produzieren – zum Beispiel über die Sache mit der Glühbirne. „Ich will die Absurditäten, die mir auffallen, mit ganz einfachen Beispielen erklären.“ Auch die kurzen Reden im Europaparlament seien für die sozialen Netzwerke „genial“.

Die anderen Parteien bemühen sich um Gelassenheit. Man dürfe sich nicht an den Rechtspopulisten abarbeiten, sondern müsse eigene Inhalte in den Vordergrund stellen, sagt die Grüne-Fraktionschefin Ska Keller. Andere argumentieren, die Rechtspopulisten seien daran gescheitert, eine sehr große Fraktion zu bilden, sie würden es nicht schaffen, den Laden lahmzulegen. Bei der Wahl der 14 Vizepräsidenten des Europaparlaments ist die Kandidatin der Rechtspopulisten nicht durchgekommen.

Gänsehaut? Fehlanzeige

Die Rechtspopulisten schauen jetzt genau darauf, was mit dem Brexit passiert. Bleibt er aus und die Brexit-Partei bleibt mit ihren 29 Abgeordnete im Parlament, hoffen Meuthen und Co., dass sie sich doch noch der ID-Fraktion anschließen. Aber auch wenn der Brexit kommt, wird die Fraktion profitieren, weil dann einige Länder Sitze hinzugewinnen. Die Rechtspopulisten würden viertstärkste Fraktion.

Doch so vereint sie in ihrer Ablehnung der Migration sind und darin, dass die EU in ihren Kompetenzen beschnitten werden muss, so weit auseinander gehen die Ansichten etwa bei Finanzen und Wirtschaft. Auswertungen des Abstimmungsverhaltens früherer Nationalistenfraktionen im Europaparlament ergaben, dass sie bei Abstimmungen deutlich öfter unterschiedlich votierten als andere Fraktionen. In der ID ist man sich beispielsweise noch nicht einmal darin einig, ob der Euro abgeschafft werden soll oder nicht.

Wie schwierig es für die Rechtspopulisten wird, zu einer gemeinsamen Linie zu finden, zeigt sich schon am ersten Tag. Ewig haben sie beraten: Sollen sie sitzen bleiben, wenn in der konstituierenden Sitzung die Ode an die Freude erklingt, oder sich erheben wie alle anderen? Es sei ein feierlicher Moment, da könne man ruhig aufstehen, finden die einen. Die anderen sagen, die EU sei schließlich kein Staat. Würde man bei ihrer Hymne aufstehen, würde man der EU eine Art Eigenstaatlichkeit zuerkennen. Auf einen gemeinsamen Nenner kommt man nicht – so dass sich dann ein absurdes Bild bietet.

Nicht nur, dass die Brexit-Abgeordneten ganz hinten im Saal mit dem Rücken zum Plenum stehen. Die Franzosen und Belgier der ID-Fraktion, die sich kleine Fähnchen mitgebracht haben, bleiben sitzen. Der Rest der Rechtspopulisten-Fraktion steht – mit Ausnahme der AfD-Abgeordneten Christine Anderson, einer glühenden Anhängerin von Björn Höcke.

Guido Reil, der mit aufgestanden ist, ist genervt. Am Mikro vor ihm klebt eine auf Papier ausgedruckte Deutschlandfahne. Nach ein paar Minuten ist die Zeremonie schon vorbei. „Als ich vor zehn Jahren in den Rat der Stadt Essen eingezogen bin, hatte ich eine Gänsehaut“, sagt er später. „ Hier: Fehlanzeige.“

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