Türkei: Wir sollten froh sein über das Ende des Coups
Die liberale Demokratie wurde von Erdogans Anhängern nicht verteidigt. Trotzdem kann der Westen an einem Militärregime kein Interesse haben. Ein Gastkommentar.
Ein Ende der Ära Erdogan wäre sicher nicht das schlechteste für die Türkei gewesen: Das Land wurde unter ihm in ein nach islamischen Prinzipien funktionierendes verwandelt, die Unabhängigkeit der Gerichte und der Justiz untergraben, die Pressefreiheit ausgehebelt. Die Türkei ist wirtschaftlich angeschlagen; der Tourismus an der türkischen Riviera ist eingebrochen, 98 Prozent weniger Russen, 50 Prozent weniger Deutsche. Dazu ein wahnwitziger Präsidentenpalast im Naturschutzgebiet. Schon lange war erwartet worden, dass das Militär diesem Spuk ein Ende bereiten würde.
Politisch ist die Türkei gespalten wie viele andere Länder zurzeit, von den USA bis Österreich: überall knappe Mehrheiten. So wählte bei der Wahl 2015 die eine Hälfte der Türken Recep Tayyip Erdogan und die AKP, die zweite Hälfte nicht. So ging die Präsidentenwahl aus in Österreich, so standen die beiden potenziellen Kandidaten im US-Wahlkampf zueinander, so knapp ging das Brexit-Referendum aus. Eine Polarisierung der Politik ist vielerorts zu beobachten. Und dennoch ist die Türkei anders.
Noch gibt es zu wenig Details über die Organisation und den Ablauf dieses Putschversuchs. Wer steht dahinter? Die Opposition oder gar Erdogan selber, um nun die beste Entschuldigung zu haben, das Militär von ihm unliebsamen Zeitgenossen "zu säubern", wie er das nennt? Eine repressive türkische Führung wird dieses Momentum zu noch mehr Repression ausnutzen. Dabei muss man sich stets vor Augen führen, dass Erdogan nicht davor zurück schreckt, einen achtjährigen Knaben vor Gericht zu zerren, der in einem alten AKP-Wahlplakat etwas eingewickelt hatte. Erdogan ist zart besaitet und bezieht alle Kritik an allem auf sich und ihn allein persönlich. Zudem wähnt er, verschwörungstheoretisch, nicht näher von ihm spezifizierte Kräfte hinter allem, was ihm wie ein Angriff auf das Türkentum erscheint.
Die schwarze gegen die weiße Türkei
Recep Tayyip Erdogan ist der erste Populist, der mit einer Rhetorik "die da oben - wir dagegen" an die Macht gekommen ist. Seine Rhetorik war von Anfang an eine, die sich gegen die Eliten des Landes richtete, die kemalistische Elite, die für Modernisierung steht. Die weiße Türkei, wie sie genannt wird. Er, Recep Erdogan, repräsentiert in seiner Wahrnehmung die schwarze Türkei, das einfache anatolische Volk. Diese Rhetorik verfängt, deshalb wird er gewählt. Selbstredend ist fraglich, inwieweit sich diese Repräsentation in einem Tausend-Zimmer-Palast manifestiert.
Das Militär verstand und versteht sich als der Bewahrer der laizistischen Ordnung und der Prinzipien der Republik - das sind demokratische und westliche Prinzipien. Kemal Mustafa Atatürk hat im Islam eine rückwärtsgewandte Kraft gesehen und wollte seinen Einfluss so weit als möglich aus dem öffentlichen Leben zurückdrängen. Wegen vieler Entwicklungen in den über zehn Jahren Herrschaft von Erdogan hat er daher sicher häufige Male im Grabe rotiert.
Die Demonstranten wollten ihren starken Mann verteidigen
Präsident Erdogan hat seine Anhänger aufgerufen, auf die Straße zu gehen und ihm beizustehen. Ob die Demonstranten mit ihrem Protest die Demokratie stützen wollten? Das scheint fraglich. Sie wollten ihren starken Mann, den Bewahrer des Türkentums und den ersten neuen Ottomanen, unterstützen. Das ist legitim, aber im Westen sollte das nicht zu dem Schluss verleiten, dass gestern in der Türkei die liberale Demokratie verteidigt worden wäre. Heiligt also der Zweck die Mittel? Ist es statthaft, eine Militärdiktatur zu installieren, um einen Autokraten zu stürzen? Nein, natürlich nicht.
Präsident Erdogan und die aktuelle Regierung in der Türkei sind durch eine demokratische Wahl in ihr Amt gekommen - mit einem Wahlergebnis, das wir in vielen westlichen Staaten auch kennen: knapp. In einem zunehmend polarisierten gesellschaftlichen Kontext. Seine Partei hat ein Votum zu regieren. Wenn die Türken nicht sehen, wie sehr er ihr Land zum Negativen transformiert, kann dann das Militär Abhilfe schaffen? Die Erfahrung mit Militärcoups, jüngst einer in Ägypten, geben keinen Anlass zu Optimismus. Und Panzer auf den Straßen stärken nicht das Vertrauen der Investoren in das Land, noch kommen in dieser Situation mehr Touristen. Und: Ein Militärregime vor den Toren Europas, verantwortlich unter anderem für die Umsetzung des Flüchtlingsabkommens, das können weder die Nato noch die EU gebrauchen.
Die AKP bringt ihre Anhänger dazu, sich als menschliche Schutzschilde ihres Präsidenten vor die Panzer zu stellen. Die Menschen in der Türkei haben es, so scheint es, geschafft, das Militär zu entwaffnen. Die Zeiten, in denen Waffen gesprochen und so politische Realität geschaffen haben, sind damit in der Türkei endgültig vorbei. Auch wir im Westen sollten froh sein, dass dieser Coup misslungen ist. Wenn die Ära Erdogan zu Ende gehen soll, dann durch eine demokratische Wahl.
Alexander Görlach ist Gründer und Herausgeber des Debatten-Magazins The European. Er forscht derzeit als Visiting Scholar am Center for European Studies an der Harvard University in den USA.
Alexander Görlach