Lauterbach schlägt kleine „Impf-Revolution“ vor: „Wir müssen unter 100 000 Toten bleiben“
Karl Lauterbach, auch Corona-Berater der Kanzlerin, schlägt im Kampf gegen die Dritte Welle einen ganz neuen Ansatz beim Impfen vor.
Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hat vor einem Anstieg der Corona-Todeszahlen auf weit über 100 000 Verstorbene gewarnt, wenn jetzt nicht rasch gegengesteuert werde. „Wir müssen deutlich unter 100 000 Toten bleiben“, sagte der Corona-Berater der Bundesregierung in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ (Hier das ganze Interview).
Aktuell gibt es knapp 76.000 Todesfälle im Zuge von Covid-19-Erkrankungen.
Wenn unter 100.000 Todesfällen bleiben wolle, dann sei eine Kombination aus Ausgangsbeschränkungen, einer Testpflicht gerade für Unternehmen und vor allem schnelleren Erstimpfungen dringend notwendig. „Sonst schaffen wir das nicht.“
Damit angesichts der stark steigenden Infektionszahlen mehr Bürger jetzt schon eine Erstimpfung bekommen können, fordert Lauterbach eine Streckung zwischen Erst- und Zweitimpfung auf drei Monate: „Ich halte bei Biontech zwölf Wochen für vertretbar, auch wenn das über das eigentliche Zulassungsintervall hinausgeht.“ Aber der Nutzen überwiege den Schaden auf der Grundlage von britischen Daten hierzu gravierend. Damit können viele Menschenleben gerettet werden. Lauterbach verwies darauf, dass auf den Vorschlag der Wissenschaftler Dirk Brockmann, Ben Maier, Michael Meyer-Hermann und ihm, die Intervalle bei Biontech bereits auf sechs Wochen und bei Astrazeneca auf zwölf Wochen gedehnt worden waren. „Das wurde zum Glück politisch beschlossen. Nach unseren Berechnungen werden wir dadurch 8000 bis 14.000 Menschenleben retten.“ Lauterbach betonte, er rechne mit einer fulminanten dritten Welle. Er hat ausgerechnet, wenn erstmal nur Erstimpfungen gemacht würden, können im Laufe des zweiten Quartals 60 Millionen Bürger eine Erstimpfung bekommen haben.
In einer noch stärkeren Streckung der Impfintervalle liege er Schlüssel für die Rettung möglichst vieler Menschenleben. „Der Schutz schon nach einer Impfung ist sehr hoch“, betont er, dass das nicht zu riskant sei.
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Lauterbach fordert daneben wie berichtet einen raschen neuen Corona-Gipfel und mindestens zweiwöchige bundesweite Ausgangssperren von 20 bis 06 Uhr. Die jetzt überall nach Ostern geplanten Modellprojekte forderte er, zu stoppen. „Keine Öffnungen, keine Modellprojekte. Wir brauchen jetzt nicht Jugend forscht, also auch kein Tübingen überall.“ Besonders das Saarland, wo es landesweite Lockerungen geben soll, verhalte sich unsolidarisch. „Dort hat man zusätzliche Impfdosen bekommen, weil sie Grenzregion sind und sich dort die südafrikanische Mutante ausbreitet. Es ist aber auch unsolidarisch, weil wir damit unsere gesamte Botschaft kaputt machen.“ Man müsse jetzt dringend Kontakte reduzieren. „Die Modellversuche sind nichts anderes als Feigenblätter für Lockerungen. Es ist eine illusorische Idee, dass wir lockern und trotzdem gehen die Fallzahlen runter. Das ist abwegig und wird nicht funktionieren.“
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Der größte Fehler? Lauterbach hat eine klare Antwort
Überlegungen seines Parteifreundes, Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller (SPD), wegen der viele Kontakte die Impfreihenfolge zu ändern und mehr Jüngere zu impfen, wies Lauterbach scharf zurück. „Das halte ich für einen großen Fehler. Das darf auf keinen Fall passieren. Die Strategie, zu verhindern, dass wir zu viele Todesfälle haben, ist damit weg.“ Es sei nun einmal so, dass die unter 80-Jährigen teils sehr, sehr schwere Verläufe haben. Und von denen erkranken nicht nur viele, sondern von denen würden viele sterben. „Diesen Menschen kann ich jetzt nicht vermitteln, dass 20-Jährige beim Impfen vorgezogen werden, damit sie Party machen können, ohne andere zu infizieren.“
Die Fehler von EU-Kommission und Bundesregierung bei der Impfstoffbeschaffung bezeichnete er als die größten der Pandemie. „Von allen Fehlern, historisch betrachtet wird dieser Fehler nachher als der größte in der Pandemiebewältigung sowohl der EU als auch Deutschlands betrachtet werden müssen“. „Die haben das gemacht wie Kunden, die darauf warten, dass irgendwann Impfstoffe auf dem Markt sind und sie dann entsprechende Kontingente bekommen.“
Stattdessen hätte man aber wie die USA zusätzlich als ein Investor agieren müssen, der sich am Aufbau einer Massenproduktion beteiligt. „Die EU hat weder kluge Verträge gemacht, noch was für die Produktion. Wenn wir es ähnlich gemacht hätten, hätte Europa, ich habe das ausgerechnet, 24 Milliarden Euro für den Aufbau notwendiger Impfstoff-Kapazitäten ausgeben müssen. Und die EU hat keine vier Milliarden ausgegeben.“
Lauterbach hatte schon im Mai 2020 den Aufbau einer Massenproduktion gefordert, war aber unerhört geblieben. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) räumte im Bundestag hierzu jüngst große Versäumnisse ein. „Diese 24 Milliarden Euro hätten bedeutet, dass wir jetzt im April die Impfungen hätten beenden können“, sagte Lauterbach, der Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und die SPD-Ministerpräsidenten in der Pandemie berät.
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"Aus dem Boot aussteigen und schwimmen"
Er pocht auf nach dem jüngsten Chaos um den von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) wieder gekippten Oster-Lockdown auf eine neue Bund-Länder-Schalte in den nächsten Tagen und nicht erst am 12. April. Merkel will sich Sonntagabend auch bei "Anne Will" in der ARD der Kritik stellen. "Ohne einen scharfen Lockdown wird es nicht gehen“, betonte Lauterbach und verteidigte seine Forderung nach bundesweiten Ausgangssperren.
„Ausgangsbeschränkungen ab 20 Uhr für zwei Wochen würden wirken – wir haben es in Frankreich, Großbritannien und Portugal gesehen.“ Um parallel die Infektionsrisiken gerade am Arbeitsplatz zu senken, pocht er auf eine sofortige Testpflicht für Betriebe und verpflichtendes Homeoffice, die Arbeitgeber müssen auch ihren Anteil endlich bringen. „Mich überrascht auch, dass die Gewerkschaften nicht mehr tun, um ihre Arbeitnehmer im Betrieb zu schützen, weil die Betriebe ein erhebliches Risiko darstellen“.
Es werde allgemein im politischen Berlin zu wenig über die Gefahren und die Langzeitfolgen gesprochen, kritisierte der Epidemiologe Lauterbach. „Es wird viel zu wenig über die Stärke der dritten Welle gesprochen, welche Altersgruppen das betrifft und wie gefährlich die Mutationen für die mittleren Altersgruppen sind.“ Vor allem aber werde zu wenig über Langzeitfolgen kommuniziert – „das betrifft ja bis zu zehn Prozent der Infizierten, also aktuell bis zu 250.000 Menschen“. Aber das Wort der Wissenschaft habe leider wegen des Öffnungsdrucks an Gewicht verloren hat und das in einer Phase, wo sie mehr denn je gebraucht werde. Dahinter liege der Fehlglaube vieler Politiker, dass sich die Lage bald durch das bessere Wetter, die Impfungen und flächendeckende Tests von selbst erledigen könnte. „Die dritte Welle wird politisch und medizinisch unterschätzt. Man steigt aus dem Boot und will den Rest bis zum Land schwimmen – dabei überschätzt man aber, wie gut man schwimmen kann.“
Auch andere warnen immer lauter
Angesichts der steigenden Zahl an Corona-Infektionen in Deutschland wächst auch von anderer Seite der Druck auf Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten, doch noch einmal härtere Einschränkungen zu erwägen. „Es gibt sehr deutliche Signale, dass diese Welle noch schlimmer werden kann als die ersten beiden Wellen“, sagte der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, Ende der Woche. Zu den Neuinfektionen sagte Wieler: „Das können dann auch 100 000 pro Tag werden.“ Wieler machte deutlich, dass er aus infektionsmedizinischer Sicht schärfere Auflagen für nötig hält: „Wir hatten einen Lockdown, der diesen Namen verdient, letztes Jahr im Frühjahr.“
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) warnte: „Wenn das ungebremst weitergeht, laufen wir Gefahr, dass unser Gesundheitssystem im Laufe des April an seine Belastungsgrenze kommt.“ Auch Mediziner betonen, dass schon in wenigen Wochen die Krankenhäuser an ihre Grenzen kommen könnten, weil jetzt nicht mehr die geimpften alten Bürger auf den Intensivstationen landen, sondern vor allem 50- bis 60-Jährige, die in der Regel länger dort liegen.
Spahn sagte, Umfragen zeigten, es gebe in der Bevölkerung einen steigenden Anteil, der sich härtere Maßnahmen wünsche. Nach dem Politbarometer von ZDF und Tagesspiegel ist das bei 36 Prozent der Befragten der Fall; ein Plus von 18 Prozentpunkten gegenüber dem Vormonat. Für 31 Prozent sind die Maßnahmen „gerade richtig“, 26 Prozent halten sie für übertrieben.
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