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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Aufzeichnung der Rede.
© Jesco Denzel/Bundespresseamt/dpa

Wortlaut der Steinmeier-Rede zur Coronavirus-Krise: „Wir können und wir werden auch in dieser Lage wachsen“

Die Welt werde nach der Coronavirus-Pandemie eine andere sein, sagt Bundespräsident Steinmeier. Wir dokumentieren seine Rede im Wortlaut.

Fernseh-Ansprachen eines Bundespräsidenten in einer akuten Krise sind in Deutschland äußerst selten. Normalerweise wendet sich das deutsche Staatsoberhaupt nur zu Neujahr, bei großen historischen Jubiläen oder zur Unterstützung caritativer Organisationen direkt an die Zuschauer. Ausnahmen waren etwa Horst Köhlers Ansprache zur vorzeitigen Auflösung des Bundestags 2005 oder Heinrich Lübkes Ansprache aus Berlin nach dem Mauerbau 1961. Und nun also eine Rede des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier in Zeiten der Coronavirus-Krise. Wir dokumentieren sie im Wortlaut.

„Guten Abend, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!
In wenigen Stunden beginnt das Osterfest. Draußen erblüht die Natur und wir sehnen uns hinaus ins Freie – und zueinander: zu lieben Menschen, Familie, Freunden.
So waren wir es gewohnt. So gehörte es dazu. Doch dieses Jahr ist alles anders. Es tut weh, auf den Besuch bei den Eltern zu verzichten. Großeltern zerreißt es das Herz, nicht wenigstens an Ostern die Enkel zu umarmen. Viel mehr noch ist anders in diesem Jahr. Kein buntes Gewimmel in Parks und Straßencafés. Für viele von Ihnen nicht die lang ersehnte Urlaubsreise. Für Gastwirte und Hoteliers kein sonniger Start in die Saison. Für die Gläubigen kein gemeinsames Gebet. Und für uns alle die bohrende Ungewissheit: Wie wird es weitergehen?
Ausgerechnet an Ostern, dem Fest der Auferstehung, wenn Christen weltweit den Sieg des Lebens über den Tod feiern, müssen wir uns einschränken, damit Krankheit und Tod nicht über das Leben siegen.
Viele tausend sind bereits gestorben. Bei uns im eigenen Land. Und in Bergamo, im Elsass, in Madrid und New York. Die Bilder gehen uns nah. Wir trauern um die, die einsam sterben. Wir denken an ihre Angehörigen, die nicht einmal gemeinsam Abschied nehmen können. Wir danken den unermüdlichen Lebensrettern im Gesundheitswesen.
Und: So sehr unser aller Leben auf dem Kopf steht, so denken wir an die, die die Krise besonders hart trifft – die krank oder einsam sind; die Sorgen haben um den Job, um die Firma; die Freiberufler, die Künstler, denen Aufträge wegbrechen; die Familien, die Alleinerziehenden in der engen Wohnung ohne Balkon und Garten.
Die Pandemie zeigt uns: Ja, wir sind verwundbar. Vielleicht haben wir zu lange geglaubt, dass wir unverwundbar sind, dass es immer nur schneller, höher, weiter geht. Das war ein Irrtum. Aber nicht nur das, die Krise zeigt uns auch, wie stark wir sind! Worauf wir bauen können!
Ich bin tief beeindruckt von dem Kraftakt, den unser Land in den vergangenen Wochen vollbracht hat. Noch ist die Gefahr nicht gebannt. Aber schon heute können wir sagen: Jeder von Ihnen hat sein Leben radikal geändert, jeder von Ihnen hat dadurch Menschenleben gerettet und rettet täglich mehr.
Es ist gut, dass der Staat jetzt kraftvoll handelt – in einer Krise, für die es kein Drehbuch gab. Ich bitte Sie alle auch weiterhin um Vertrauen, denn die Regierenden in Bund und Ländern wissen um ihre riesige Verantwortung.
Doch wie es jetzt weitergeht, wann und wie die Einschränkungen gelockert werden können, darüber entscheiden nicht allein Politiker und Experten. Sondern wir alle haben das in der Hand, durch unsere Geduld und Disziplin – gerade jetzt, wenn es uns am schwersten fällt.
Den Kraftakt, den wir in diesen Tagen leisten, den leisten wir doch nicht, weil eine eiserne Hand uns dazu zwingt. Sondern weil wir eine lebendige Demokratie sind! Eine Demokratie mit verantwortungsbewussten Bürgern, die einander zutrauen, auf Fakten und Argumente zu hören, Vernunft zu zeigen, das Richtige zu tun.
Eine Demokratie, in der jedes Leben zählt – und in der es auf jede und jeden ankommt: vom Krankenpfleger bis zur Bundeskanzlerin, vom Expertenrat der Wissenschaft bis zu den sichtbaren und den unsichtbaren Stützen der Gesellschaft – an den Supermarktkassen, am Lenkrad von Bus und Lkw, in der Backstube, auf dem Bauernhof oder bei der Müllabfuhr. So viele von Ihnen wachsen jetzt über sich selbst hinaus. Ich danke Ihnen dafür.
Und natürlich weiß ich: Wir alle sehnen uns nach Normalität. Aber was heißt das eigentlich? Nur möglichst schnell zurück in den alten Trott, zu alten Gewohnheiten?
Nein, die Welt danach wird eine andere sein. Wie sie wird? Das liegt an uns! Lernen wir doch aus den Erfahrungen, den guten wie den schlechten, die wir alle, jeden Tag, in dieser Krise machen.
Ich glaube: Wir stehen jetzt an einer Wegscheide. Schon in der Krise zeigen sich die beiden Richtungen, die wir nehmen können. Jeder für sich, Ellbogen raus, hamstern und die eigenen Schäfchen ins Trockene bringen? Oder bleibt das neu erwachte Engagement für den anderen und für die Gesellschaft, die geradezu explodierende Kreativität und Hilfsbereitschaft? Bleiben wir mit dem alten Nachbarn, dem wir beim Einkauf geholfen haben, in Kontakt? Schenken wir der Kassiererin, dem Paketboten auch weiterhin die Wertschätzung, die sie verdienen?
Mehr noch: Erinnern wir uns auch nach der Krise noch, was unverzichtbare Arbeit – in der Pflege, in der Versorgung, in sozialen Berufen, in Kitas und Schulen – uns wirklich wert sein muss? Helfen die, die es wirtschaftlich gut durch die Krise schaffen, denen wieder auf die Beine, die besonders hart gefallen sind?
Und: Suchen wir auf der Welt gemeinsam nach dem Ausweg oder fallen wir zurück in Abschottung und Alleingänge? Teilen wir doch alles Wissen, alle Forschung, damit wir schneller zu Impfstoff und Therapien gelangen, und sorgen wir in einer globalen Allianz dafür, dass auch die ärmsten Länder Zugang haben, die am verwundbarsten sind. Nein, diese Pandemie ist kein Krieg. Nationen stehen nicht gegen Nationen, Soldaten gegen Soldaten. Sondern sie ist eine Prüfung unserer Menschlichkeit. Sie ruft das Schlechteste und das Beste in den Menschen hervor. Zeigen wir einander doch das Beste in uns!
Und zeigen wir es bitte auch in Europa! Deutschland kann nicht stark und gesund aus der Krise kommen, wenn unsere Nachbarn nicht stark und gesund werden. Diese blaue Fahne steht hier nicht ohne Grund. 30 Jahre nach der Deutschen Einheit, 75 Jahre nach dem Ende des Krieges sind wir Deutsche zur Solidarität in Europa nicht nur aufgerufen – wir sind dazu verpflichtet!
Solidarität – ich weiß, das ist ein großes Wort. Aber erfährt nicht jeder und jede von uns derzeit ganz konkret, ganz existenziell, was Solidarität bedeutet? Mein Handeln ist für andere überlebenswichtig.
Bitte bewahren wir uns diese kostbare Erfahrung. Die Solidarität, die Sie jetzt jeden Tag beweisen, die brauchen wir in Zukunft umso mehr! Wir werden nach dieser Krise eine andere Gesellschaft sein. Wir wollen keine ängstliche, keine misstrauische Gesellschaft werden. Sondern wir können eine Gesellschaft sein mit mehr Vertrauen, mit mehr Rücksicht und mehr Zuversicht.

Ist das, selbst an Ostern, zu viel der guten Hoffnung? Über diese Frage hat das Virus keine Macht. Darüber entscheiden allein wir selbst.
Vieles wird in der kommenden Zeit nicht einfacher. Aber wir Deutsche machen es uns sonst ja auch nicht immer einfach. Wir verlangen uns selbst viel ab und trauen einander viel zu. Wir können und wir werden auch in dieser Lage wachsen.
Frohe Ostern, alles Gute – und geben wir acht aufeinander!“ (Tsp)

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