Boris Palmer über Tübingens Corona-Sonderweg: „Wir haben zuletzt bei den über 75-Jährigen keine Fälle mehr“
In Tübingens Klinik gibt es kaum Corona-Patienten. OB Palmer erklärt, mit welchen Maßnahmen die Älteren in der Pandemie geschützt werden. Ein Interview.
Boris Palmer (Grüne) ist seit 2007 Oberbürgermeister der Stadt Tübingen. In der eigenen Partei eckt der 48-Jährige immer wieder an, vor allem mit seinen Äußerungen zur Migrations- und Asylpolitik. In der Coronakrise hat Palmer die harten Maßnahmen von Bund und Ländern wiederholt kritisiert. Im folgenden Interview lobt er den Tübinger-Weg in der Pandemiebekämpfung. Allerdings argumentiert Palmer auf Basis falscher Zahlen, für die er sich mittlerweile entschuldigt hat. Grund sei eine Datenpanne gewesen. Über Palmers Entschuldigung und die Lage in Tübingens Pflege- und Altenheimen lesen Sie an dieser Stelle mehr.
Herr Palmer, Sie verfolgen in der Coronakrise Ihren eigenen Kurs, bei dem es vor allem um den Schutz der Alten und Vorerkrankten geht. Wie sieht dieser „Tübinger Weg“ aus?
Wir haben uns zum Ziel gesetzt, die Älteren besonders zu schützen, weil für sie die Gefahr durch Corona mit Abstand am höchsten ist. Deswegen haben wir im September damit begonnen, das Personal in den Altenheimen regelmäßig zu testen. Im Oktober haben wir Schnelltests gekauft, seither werden Besucher und Bewohner regelmäßig getestet.
So ist es uns gelungen, das Eindringen des Virus in die Alten- und Pflegeheime in unserer Stadt bisher vollständig zu verhindern. Wir haben insgesamt eine niedrige Sieben-Tage-Inzidenz, die letzten drei Wochen lag die um die 100 Fälle pro 100.000 Einwohner. Bei den über 75-Jährigen haben wir zuletzt überhaupt keine Fälle mehr gehabt. Deshalb hat auch unsere Uni-Klinik nur sehr wenige Corona-Patienten.
Sie sagen, es gebe bei den über 75-Jährigen keine Fälle. Gilt das nur für die Altersheime oder auch für Alte, die noch zu Hause wohnen?
Bei den Menschen in den Heimen hatten wir gar keine Fälle. Aber auch die Mitarbeiter der mobilen Pflegedienste werden regelmäßig getestet, so dass wir das Einschleppen des Virus in die Privatwohnungen der Alten verhindern konnten. Allen über 65 Jahre haben wir außerdem kostenlos FFP2-Masken zugesandt.
Auch haben wir ein Zeitfenster von neun bis elf Uhr etabliert, das für die Alten beim Einkaufen reserviert sein soll. Und wir haben Taxifahrten zum Preis des Bussystems eingeführt für Menschen über 60, damit die sich nicht mit den Jungen den Bus teilen müssen. Das alles zusammen scheint die Infektionszahlen bei den Alten deutlich gedrückt zu haben.
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Wer bezahlt die Masken und die Taxifahrten?
Das übernimmt die Stadtkasse.
Was kostet Sie das alles?
Wir haben dieses Jahr mehr als eine halbe Million Euro in diese Maßnahmen investiert. Ich finde, das ist gut angelegtes Geld, wenn es die Uni-Klinik vor Überlastung schützt und Menschenleben in den Heimen rettet.
Wie viele der Tübinger Geschäfte machen denn mit bei den Sonderöffnungszeiten für Senioren?
Die Geschäfte machen überwiegend mit. Aber es wird natürlich niemand vor die Tür gesetzt. Die wichtigere Frage ist: Wie verhalten sich die Kunden? Die Geschäfte hängen den Appell aus, dass man zwischen neun und elf den Alten den Vortritt lassen sollte. Die Kunden orientieren sich da dran, aber es gibt dazu keine Zahlen.
Schon im Frühjahr haben Sie in Ihrem „Tübinger Appell“ exklusive Öffnungszeiten der Geschäfte für Alte gefordert. Der Landesseniorenrat lief damals genauso Sturm wie der Handels- und Gewerbeverein. Beide warfen Ihnen Alterdiskriminierung vor. Was sagen Sie dazu?
Der Seniorenrat unserer Stadt und auch des Landkreises haben beide den Appell unterschrieben und unterstützen das voll und ganz. Wir bekommen dafür viel positive Resonanz von älteren Menschen.
Die Kritik, die Sie ansprechen, war eine Ferndiagnose, oft basierend auf Missverständnissen. So glauben viele, dass wir den Alten Sammeltaxis anbieten. Das stimmt aber nicht. Das sind Einzelfahrten.
Welchen Anteil bei der Eindämmung der Pandemie haben die Maßnahmen, die Bund und Länder verhängt? Also die Schließung der Gaststätten, die Abstandsregeln und so weiter.
Wir setzen die Regeln des Landes in unserer Stadt eins zu eins um. Abstandsregeln und Masken sind absolut entscheidend dafür, dass die Infektionszahlen nicht explodieren. Aber der große Unterschied zwischen Tübingen und anderen Städten ist, dass wir zusätzlich zu all diesen Regeln oben drauf einen besonderen Schutz für die Älteren etabliert haben. Das drückt die Zahl der schweren Erkrankungen deutlich nach unten.
Inzwischen zeichnet sich ab, dass spätestens nach Weihnachten deutschlandweit ein harter Lockdown kommt. Ist das nötig?
Das ist nötig, weil bislang viel zu wenig gezielt gegen das Virus vorgegangen wurde. Wir hätten den harten Lockdown verhindern können, aber jetzt ist es zu spät. Man hätte sich viele Maßnahmen sparen können, wenn wir von Anfang an auf den Schutz der Älteren und moderne Datentechnik zur Rückverfolgung von Infektionsketten gesetzt hätten.
Die Berlinerinnen und Berliner sind einer aktuellen Umfrage zufolge ziemlich unzufrieden mit dem Krisenmanagement des Berliner Senats. Können Sie das verstehen?
Da steht mir kein Urteil zu, aber ich habe ja schon mal gesagt, was ich als Privatmensch denke, wenn ich nach Berlin komme: Vorsicht, Sie verlassen jetzt den funktionierenden Teil Deutschlands.
Hinweis der Redaktion: Das Interview wurde am 14. und 15. Dezember in der Einleitung um die jeweils neuen Erkenntnisse zu den Zahlen aus Tübingen ergänzt.
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