Vermeintliches Corona-Wunder in Tübingen: Boris Palmer entschuldigt sich für falsche Infizierten-Zahlen
Tübingens Corona-Konzept für Ältere sorgte für Schlagzeilen – angesichts niedriger Infektionszahlen. Doch die waren fehlerhaft, räumt der OB ein.
Vergangene Woche machte das Beispiel Tübingen Schlagzeilen: Die Tagesthemen, das ZDF, die „Bild“ oder der Tagesspiegel berichteten über das Schutzkonzept in der Stadt – mit kostenlosen Masken und subventionierten Taxifahrten für Senioren, speziellen Einkaufsstunden oder Reihentestungen in Heimen.
„Boris Palmer steht als Corona-Retter da“, titelte die „Stuttgarter Zeitung“ vergangene Woche. „Bei den über 75-Jährigen haben wir zuletzt überhaupt keine Fälle mehr gehabt“, behauptete Oberbürgermeister Boris Palmer im Tagesspiegel-Interview – in Pflegeheimen gebe es auch keine Fälle.
Ersteres war dabei falsch, wie Recherchen des Tagesspiegels ergaben, die auch gestern in der Talkshow von Anne Will thematisiert wurden. Denn es hatte in den Vorwochen jeweils mehrere Fälle gegeben, wie der Landkreis Tübingen auf Nachfrage erklärte.
In städtischen Auswertungen seien diese nicht aufgetaucht, erklärt die Stadt nun. „Das war keine bewusste Fehlinformation, sondern hier gab es Probleme bei der Datenübermittlung zwischen Kreis und Stadt und bei der Auswertung dieser Daten“, sagt Palmer. „Hunderte von Fällen müssen händisch eingepflegt werden, weshalb trotz größter Sorgfalt auch Fehler passieren können. Ich entschuldige mich dafür, an dieser Stelle eine falsche Aussage gemacht zu haben.“
Coronafälle in drei Tübinger Pflegeheime
Lange waren die Zahlen in Tübingen noch vergleichsweise niedrig – doch heute wurde bekannt, dass es in Tübingen Coronafälle in drei Pflegeheimen gibt. Für die letzte Woche wurden bislang 24 Fälle aus der Stadt Tübingen gemeldet, erklärt eine Kreissprecherin dem Tagesspiegel.
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Bei laut Landesstatistik Ende 2019 genau 7150 Tübingern, die 75 Jahre oder älter sind, entspricht dies rund 336 Fällen pro hunderttausend Einwohnern und Woche. Laut einer Auswertung des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung hatte Berlin bei den über 80-Jährigen zuletzt 365 Fälle pro hunderttauschend Menschen und Woche, Freiburg liegt bei einem Wert von 156.
Nachdem zuvor ein erster Fall bekanntgeworden war, wurden bei einem Tübinger Pflegeheim am Donnerstag „umgehend alle Bewohnerinnen und Bewohner sowie Beschäftigte getestet“, erklärt die Stadt in einer Pressemitteilung. Insgesamt seien nun sechs Bewohner und vier Pflegekräfte infiziert. In einem anderen Heim sei eine Bewohnerin positiv getestet worden, die zuvor aus einer Klinik entlassen wurde – weitere Tests bei anderen Personen aus dem Heim waren bisher negativ.
Bei einer dritten Pflegeeinrichtung seien 19 Bewohner sowie sieben Beschäftigte positiv auf das Coronavirus getestet worden, erklärt die Stadt. „Das Heim hat ein Besuchsverbot erlassen.“ „Wir hatten in Tübingen über eine erfreulich lange Zeit keine Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen“, sagt Palmer hierzu in einer Stellungnahme. Obwohl es schon zuvor mehrfach Infektionen bei den Pflegekräften gab, habe „die Barriere, die wir durch die regelmäßigen Schnelltests errichtet haben, in den meisten Fällen gehalten“, sagt er.
„Leider war das Netz nicht engmaschig genug, denn wir konnten die Tests nicht verpflichtend anordnen“ – von dem Angebot sei unterschiedlich gut Gebrauch gemacht worden.
Palmer: Lockdown hätte verhindert werden können
Während unter Experten weitgehend Einigkeit herrscht, dass die nun auch bundesweit verfolgte Strategie sinnvoll ist, Senioren durch Schutzmasken oder regelmäßige Testungen auch von Besuchern in Pflegeheimen zu schützen, ist stark umstritten, ob Eintragungen in Risikogruppen durch diese Schritte ausreichend verhindert werden können.
„Wir konzentrieren uns auf den Schutz der alten Menschen“, hatte Palmer vergangene Woche gegenüber der Pforzheimer Zeitung erklärt. „Wenn wir Schulen, Kitas und Uni weiter offen halten wollen, dann zirkuliert das Virus bei den jungen Leuten und wir müssen Schutzräume für die Alten schaffen“, sagte er. „Jede Art von Lockdown“ hätte verhindert werden können, sagte Palmer der Zeitung: Mittels moderner Kontaktverfolgung wie in Taiwan und dem „Schutz der Risikogruppen wie in Tübingen“.
Die Gesellschaft für Virologie hatte dies in einer Stellungnahme von Oktober deutlich anders gesehen: Wenn es zu viele Fälle in der Gesellschaft gibt, „sind die Nachverfolgung einzelner Ausbrüche und strikte Isolationsmaßnahmen nicht mehr realisierbar“, schrieb sie. Dann sei „eine unkontrollierte Ausbreitung in alle Bevölkerungsteile, einschließlich besonders vulnerabler Risikogruppen, nicht mehr adäquat zu verhindern“. Denn es sind sehr viele Menschen, die zu Risikogruppen gehören – und der Großteil wohnt nicht in Pflegeheimen: Zu den Personen mit Risiko-Profil, an die die Bundesregierung nun FFP2-Masken verteilen will, gehören rund 27 Millionen Menschen.
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