Das schwierige Erbe von Brandts Ostpolitik: Warum die SPD und ihr Kanzler gnädig auf Russland blicken
Für Scholz wird Russland immer mehr zum Problem. Das hat historische Gründe. Jetzt aber zeichnet sich bei Scholz ein leichter Kurswechsel ab.
Olaf Scholz hat bisher kaum außenpolitische Erfahrung, vor allem kennt er einen kaum bisher: Wladimir Putin. Während Kanzlerin Angela Merkel fast bis zum letzten Tag ihrer Amtszeit wegen des russischen Truppenaufmarsches an der Grenze zur Ukraine mit Präsident Putin telefonierte, ihn über die Jahre mit all seinen Tricks kennengelernt hatte, ist von Scholz und Putin öffentlich bisher nur ein Telefonat überliefert, am 21. Dezember.
„Bundeskanzler Scholz und Präsident Putin vereinbarten, den Austausch fortzusetzen“, wurde danach in einer dürren Pressenmitteilung vermerkt.
Putin wird Scholz umgarnt haben, vielleicht mit der bisher guten russischen Zusammenarbeit mit SPD-Kanzlern. Den Namen Gerhard Schröder nimmt Scholz nicht so oft in den Mund, wie Helmut Schmidt und Willy Brandt. Schröder, Spitzname: „Gas-Gerd“ und Chef des Aktionärsausschusses beim Milliardenprojekt Nord Stream 2 plus Aufsichtsratschef beim Staatskonzern Rosneft, dürfte in der SPD noch den größten Einfluss auf Putin habe gleich ist der Altkanzler und Lobbyist in Putins Diensten das Gesicht des komplizierten sozialdemokratischen Verhältnisses zu Moskau.
Auch Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig kämpft wie eine Löwin für die Pipeline, die in ihrem Bundesland endet und wirtschaftlichen Gewinn verspricht. Entsprechend zurückhaltend ist auch sie bei konkreten Sanktionsdrohungen.
Scholz liefert bisher ganz im Sinne Putins eine ihm genehme Einstufung des Pipelineprojekts Nord Stream 2: Mehrfach bezeichnete er es als rein privatwirtschaftliches Projekt. Einen Termin für ein erstes Treffen mit Putin gibt es ist bisher nicht.
Wie lange kann Scholz Nord Stream 2 noch als Privatsache einstufen?
Scholz versucht das Wort „Nord Stream 2“ - wie beim Treffen mit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Dienstag im Kanzleramt - am besten gar nicht mehr in den Mund zu nehmen, denn es entlarvt den eigenen Wackel-Kurs gegenüber Moskau. Immerhin schließt Scholz nun Sanktionen gegen, oder ein Aus der Pipeline nicht mehr grundsätzlich aus, sollte Putin seine Truppen in der Ukraine einmarschieren lassen. Am Dienstag sagte Scholz, und das kann man als einen leichten Wechsel in seinem Kurs bezeichnen, auf die Frage, ob auch ein Aus für Nord Stream 2 als Option auf dem Tisch liege, s bei der PK mit dem Nato-Generalsekretär: "Dazu gehört eben auch, dass klar ist, dass es hohe Kosten haben wird, dass alles zu diskutieren ist, wenn es zu einer militärischen Intervention gegen die Ukraine kommt".
Es zeigen sich hier erste Risse im Ampel-Fundament, die Grünen werden unruhig. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) muss fürchten, sich bei einer soften SPD-Linie verbiegen zu müssen, sie ist eindeutig für mehr Härte gegen Moskau - und gegen Nord Stream 2. Im Scholz-Umfeld suchen sie schon nach Lösungen: Er wird seine hochumstrittene Einstufung des Nord Stream 2-Projekts revidieren müssen. Scholz erfährt gerade die Tücken der Außenpolitik, jedes Wort zählt. Mitte Februar wird er eine der wichtigsten Reden seiner bisherigen Laufbahn halten müssen, bei der Münchner Sicherheitskonferenz.
Einig sind sich alle in der Ampel aber in einem: Auch aus historischen Grünen werden der Ukraine keine Waffen geliefert, die gegen Russen zum Einsatz kommen könnten.
Noch glaubt das Duo Scholz/Baerbock an die Normandie-Chance
Und Scholz wie Baerbock setzen auf eine Wiederbelebung des Normandie-Formats, wenn Russland und die Ukraine im Beisein Deutschlands und Frankreichs miteinander reden, vielleicht das Schlimmste verhindert werden kann, wäre es ein großer Erfolg auch für die Bundesregierung.
Scholz spielt vorerst die Karte: Alle Optionen sind auf dem Tisch, aber konkret sagt er nichts. Und er bringt angesichts des russischen Pochens auf seine Sicherheits- und geostrategischen Interessen eine grundlegende Debatte über die künftige europäische Ordnung ins Spiel, ähnlich des zwei Jahre dauernden Prozesses der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), mit der die beiden Blöcke des Ost-West-Konflikts verbindliche Regeln und gemeinschaftliche Grundlagen zur Vermeidung neuer Kriege vereinbarten. Aber will das Putin überhaupt?
Mehr zum Thema auf Tagesspiegel Plus:
- Wer ist Sergej Lawrow? Kaltblütig, zynisch und Putin bedingungslos ergeben
- Gefahr einer Eskalation im Ukraine-Konflikt: Wie ist Putin noch zu stoppen?
- Das Imperium kehrt zurück: Auf welche Pläne Putins sich der Westen einstellen muss
Einer, der auch lange zum sozialdemokratischen Club der Putin-Versteher gehörte und manches Gas-Geschäft unterstützte, ist Sigmar Gabriel, der frühere SPD-Vorsitzende und Außenminister war lange, wie Scholz, für Dialog ohne ständige Drohungen. Nun schlägt er deutlich andere Töne an. So klar wie er hält bisher kein Sozialdemokrat der eigenen Partei den Spiegel vor. „Eigene Stärke in Verhandlungen bekommt man nur, wenn man der russischen Drohung eines militärischen Einmarsches in der Ukraine ernsthaft etwas entgegensetzt“, sagt Gabriel im Interview mit dem „Tagesspiegel“.
„Russland muss den Preis für einen Krieg in Europa kennen. Natürlich kann Nord Stream 2 nicht kommen, wenn Russland die Ukraine angreift.“ Russland würde damit die Voraussetzungen für die Zustimmung Deutschlands zu dem Pipelineprojekt zerstören.
„Denn es war in den Verhandlungen mit Russland immer klar, dass die Integrität und sogar die Nutzung der Pipeline durch die Ukraine durch Russland nicht infrage gestellt wird. Insofern war es nie ein rein wirtschaftliches Projekt, sondern immer an politische Bedingungen geknüpft, die der russische Präsident immer akzeptiert hat“, betont Gabriel. Das habe ihm Putin selbst zugesichert.
„Ich würde mich wirklich als einen Entspannungspolitiker bezeichnen, der den Ausgleich mit Russland sucht. Aber bei der Androhung von Krieg ist bei mir jedes Verständnis vorbei.“ Ein Land droht seinem Nachbarland mitten in Europa mit einem militärischen Überfall. „Kiew ist nur eine gute Flugstunde entfernt von Berlin.“
Eine alte "Vorwärts"-Debatte, aktuell wie nie
Gabriel erinnert sich noch gut, wie seine Partei vor einigen Jahren offen über den richtigen Umgang mit diesem Partner diskutierte. Wer der SPD seit Jahren rät, sich keinen falschen Illusionen über Wladimir Putin hinzugeben, ist der Historiker Heinrich August Winkler, selbst Mitglied der Partei. 2016 gab es jene besagte Debatte im Parteiorgan „Vorwärts“, die heute noch genauso aktuell ist.
Zahlreiche Protagonisten der SPD halten die Fahne Willy Brandts hoch, an den steten Zauber eines Wandels durch Annäherung glaubend. Doch in der Geschichte ist selten etwas vergleichbar. So schrieb Winkler, die SPD sollte sich in der Russland-Politik in Realismus statt in Wunschdenken üben.
„Leonid Breschnew wollte in der 1970er Jahren die Grenzen in Europa vertraglich sichern, Wladimir Putin will deren Revision – auch mit Gewalt.“ Geschichte solle man zu erklären versuchen. Verklären solle man sie nicht. Das Prinzip „Wandel durch Annäherung“, das Egon Bahr im Juli 1973 in der Evangelischen Akademie Tutzing verkündete, habe sich bewähren können, „weil der entscheidende Partner, die Sowjetunion, nach dem Sturz Chruschtschows im Jahr 1964 zu einer Macht geworden war, der es in Europa nicht mehr um revolutionäre Veränderung, sondern um die Wahrung des Status quo, also um die Erhaltung des 1945 geschaffenen Herrschaftsbereiches ging.“
Die Fehler der SPD in Phase II der Ostpolitik
Winkler teilte damals zwei Phasen der sozialdemokratischen Ostpolitik ein, und in der Phase II liegt sozusagen die Keimzelle der bis heute zögerlichen Kritik an einer zunehmend rücksichtslosen Staatsführung. Mit dem Erfolg der Ostpolitik Brandts und Bahrs habe die westdeutsche Sozialdemokratie danach ausschließlich auf die Vernunft der Partei- und Staatsführungen des Ostblocks gesetzt, mit denen sie auch später aus der Opposition heraus in einer Art Nebenaußenpolitik ein Netz von „Sicherheitspartnerschaften“ zu flechten versucht habe.
„Für radikale Regimekritik von Dissidenten gab es in der SPD der achtziger Jahre nur wenig Verständnis. Ein von „unten“ erzwungener grundlegender Systemwandel galt als schlechthin undenkbar.“ Die Geringschätzung, die führende Sozialdemokraten gegenüber den Bürgerrechtsgruppen der kommunistischen Staaten an den Tag legten, sei bis heute ein weithin verdrängtes Kapitel der neueren Parteigeschichte.
Mützenich sieht es anders als der Historiker Winkler
Damals antwortete ihm im „Vorwärts“ der heutige Fraktionschef und Treiber einer Dialogorientierten Russlandpolitik, Rolf Mützenich. Er kritisierte, der Unterschied zu heute liege nicht im unberechenbaren Putin und dessen Renaissance russischer Großmachtfantasien, sondern er bestehe vielmehr darin, „dass nur wenige Akteure in den ost- und mitteleuropäischen Ländern bereit sind, neben sicherheitspolitischen Initiativen auch Bemühungen zugunsten von Dialog und Entspannung mitzutragen.“
Willy Brandt, Egon Bahr und Helmut Schmidt hätten damals gewichtige Verbündete in Europa gehabt. Und dass einige Sozialdemokraten in der zweiten Phase der Entspannungspolitik in den aufkeimenden Demokratiebewegungen Osteuropas „Störenfriede“ gesehen haben, könne im Umkehrschluss nicht bedeuten, Entspannungsschritte in der heutigen hochexplosiven Situation zu unterlassen. „Eine neue Entspannungspolitik wäre heute wichtiger denn je.“
Es wäre leichtsinnig und unverantwortlich keine Angebote an die russische Seite zugunsten von Rüstungskontrolle, Truppenentflechtungen, Modernisierungspartnerschaften und gemeinsamen Institutionen zu machen. Das sei keine Anbiederung an Putin, „sondern im Gegenteil eine souveräne und wohlüberlegte Politik zugunsten von soliden Beziehungen.“
Scholz wollte mal mehr Härte gegenüber Moskau
Dieser Rückblick ist wichtig, um das aktuelle Spannungsfeld zu verstehen, auch in der Ampel-Koalition. Als Finanzminister und Vizekanzler stützte Scholz mit der damaligen Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles 2018 den härteren Kurs des neuen Außenministers Heiko Maas gegenüber Russland, der in Teilen der SPD mit Unverständnis aufgenommen und kritisiert worden war.
Im Wahlkampf vermied Scholz dann aber außenpolitische Konflikte mit der eigenen Partei, zeigte sogar Verständnis dafür, dass Fraktionschef Mützenich und Parteichef Norbert Walter-Borjans die Entscheidung über die Anschaffung von Kampfdrohnen für die Bundeswehr verzögerten, die SPD-Experten in jahrelanger Arbeit vorbereitet hatten. Auch in der Frage der atomaren Teilhabe, der Stationierung amerikanischer Atomwaffen in Deutschland als Abschreckung gegen Russland, ist die Partei uneins.
Was auch oft vergessen wird: Brandt verhandelte damals auch aus einer Position militärischer Stärke heraus, die Rüstungsausgaben in der sozialliberalen Koalition stiegen auf vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Zugleich hatten auch Brandts Partner in Warschau und Moskau eben ein hohes Interesse an einer Garantie der damals geltenden Grenzen, während Moskau die europäische Nachkriegsordnung mit der Annexion der Krim 2014 und der Unterstützung der Separatisten in der Ost-Ukraine selbst schwer verletzt hat.
Allerdings hatten jüngere sozialdemokratische Außenpolitiker schon unmittelbar nach der Besetzung der Krim durch Russland im Frühjahr 2014 in einem Gespräch mit dem damals noch lebenden Ostpolitik-Vordenker Egon Bahr versucht, ihm den Unterschied zur heutigen Situation deutlich zu machen. Einer von ihnen sagte: „Du hattest Glück, Egon, deine Partner in Moskau waren berechenbar und verlässlich. Unsere heute sind keines von beiden.“
Union: SPD gleitet in außenpolitische Verantwortungslosigkeit ab
Aber als Kanzlerpartei steht die SPD jetzt anders im Fokus – und schlingert. Der frühere Parteivize Ralf Stegner wettert gegen ein „Sesselheldentum“. Aggressionsspiralen würden nicht zu tragfähigen Lösungen führen. „Wer auf Entspannung und Friedenspolitik setzt, auf Wandel durch Annäherung 2022, auf gemeinsame Sicherheit, ist eben kein Naivling.“
SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert forderte kürzlich ultimativ ein Ende des innerdeutschen politischen Streits um die Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2. Es sei eine andere Frage, ob und in welcher Abstimmung mit Partnern Deutschland Sanktionen gegen Russland verhänge, sollte der Konflikt der Ukraine eskalieren. "Alles in mir wehrt sich aber dagegen", dass Konflikte herbeigeredet werden, "um Projekte auf diesem Wege beerdigen zu können, die einem schon immer ein Dorn im Auge waren", sagte er in Anspielung auf den Widerstand etwa der Grünen gegen die Pipeline, die mehr russisches Gas nach Westeuropa bringen soll.
Auf Kühnert bezieht sich auch Unionsfraktionsvize Johann Wadephul, der Scholz vorwirft, die SPD auf dem Feld der Außen- und Sicherheitspolitik nicht hinter der Regierungslinie zu versammeln: Wenn Kühnert allen Ernstes davor warne, eine Krise herbeizureden, die Russland durch seinen militärischen Aufmarsch an der Grenze zur Ukraine hervorrufe, „dann ist das ein Zeichen, dass die Regierungspartei SPD in außenpolitische Verantwortungslosigkeit abgleitet“, warnt Wadephul: „Das wird irgendwann auf die deutsche Außenpolitik zurückschlagen.“