Druck auf Innenminister wächst: Wieso Seehofer im Migrationsstreit nicht einlenkt
Die Lage auf Lesbos spitzt sich zu. Deutsche Kommunen wollen mehr Flüchtlinge aufnehmen. Doch die Koalition der Unwilligen steckt in der Zwickmühle. Eine Analyse.
Der Brand, der das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos vernichtet hat, könnte auch das Ende des europäischen Wegschauens bedeuten. Die Fakten sind bekannt, politisch sehen sie so aus: 13.000 Menschen, mehr als viermal so viele wie Moria eigentlich aufnehmen konnte, sind jetzt ohne Obdach, der europäische Skandal eines riesigen überfüllten Elendscamps am Rande, aber innerhalb der Grenzen Europas, hat sich damit noch einmal zugespitzt.
Die Frauen, Männer und Kinder, die dort teils seit Jahren ausharren müssen, schlafen jetzt auf Asphalt und sind noch mehr in Gefahr, auf elementar Notwendiges zu verzichten, auf Essen, Kleidung, Gesundheitsversorgung und Schutz vor dem Wetter. Dennoch ist lediglich ein gutes Drittel der europäischen Staaten, zehn von 27, bereit, Menschen von dort aufzunehmen und sie so aus dem Elend zu holen.
Die Gesamtzahl ihrer Zusagen – gerade einmal 400 Kinder und Jugendliche, während 13.000 Menschen jeden Alters sofort Hilfe brauchten – ist zugleich so drastisch klein im Vergleich zum Problem, dass die, die diese Zahl verteidigen und sie beschlossen haben, in noch größere Argumentationsnöte kommen als bisher.
Die hatten sie in der Vergangenheit nicht nur durch die Lager auf den Ägäis-Inseln, sondern auch durch ihre Blockade der NGO-Seenotrettung und das Zerren um die Anlandung selbst von wenigen Dutzend deren Schützlinge in Europas Häfen. Im Sommer kam Seehofers Nein zur freiwilligen Aufnahme der Länder dazu.
Bündnis von aufnahmewilligen Kommunen und Kreisen wächst
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Zugleich steigt der politische Druck: Das Bündnis von aufnahmewilligen Kommunen und Kreisen wächst, egal welche politische Farben die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister haben. Etwa 2000 Plätze haben die Länder während der Innenministerkonferenz angeboten. Minister Seehofer zögerte lange, Berlin und Thüringen sein Nein zu ihren Landesaufnahmeprogrammen schriftlich zu geben – offenbar ahnend, dass dies angesichts der Bilder von den griechischen Inseln keinen guten Eindruck machen würde. Auch da ging es schon nur um ein paar hundert Menschen.
Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet, ein Christdemokrat, ersparte dem Unionsfreund knapp ein weiteres Nein in der eigenen politischen Familie. Die Düsseldorfer Landesregierung beschloss nämlich kein Landesprogramm, ließ aber schon vor Wochen durchblicken, dass sie die Zustände in Griechenland für unhaltbar hielt.
Offener Krach im Unionslager
Laschet besuchte Moria. Was er damals noch vermied, den offenen Krach im Unionslager, haben am Freitag 16 Bundestagsabgeordnete von CDU und CSU begonnen: In einem offenen Brief fordern sie die Aufnahme von mindestens 5000 Menschen aus Moria, denen „notfalls auch allein“ Deutschland helfen müsse.
Und Laschet, Kandidat für den CDU-Vorsitz und möglicherweise Nachfolger der Kanzlerin, hat nachgelegt: Nicht nur bot er nach dem Brand an, mehr als die doppelte Zahl der europäischen allein in NRW aufzunehmen, tausend Menschen. Im Tagesspiegel unterschied er klar zwischen gesamteuropäischer Flüchtlingspolitik und der notwendigen Nothilfe jetzt – eine deutliche Stellungnahme gegen Seehofer, der immer den Vorrang europäischer Lösungen betont. Die, wie nicht nur der Minister weiß, nicht kommen.
Die von Kommission und EU-Parlament längst abgesegnete Neuformulierung der europäischen Asyl- und Migrationspolitik zum Beispiel hängt bereits seit Jahren im Rat fest, also auf der Ebene der nationalen Regierungen. Selbst die Verteilung von wenigen Schiffbrüchigen im kleinen Kreis – siehe Malta-Verabredung vom Herbst 2019 – scheitern oder lahmen.
Seehofer muss sich „unchristliche“ Linie vorwerfen lassen
Die offensichtliche Unmöglichkeit der offiziell propagierten Lösungen, dazu ein drastisches Missverhältnis zwischen Problem und Hilfszusagen, das daraus resultierende öffentliche Bild der Handelnden, erheblicher Gegenwind sogar aus dem eigenen politischen Lager: Seehofer und Europas übrige Verteidiger eines prinzipiellen Nein zur umfassenden Nothilfe könnten also schon aus Eigeninteresse gute Gründe haben, umzusteuern.
Der Minister musste bereits im heimischen Bayern erfahren, dass seine „unchristliche“ Linie (Linken-Fraktionschef Bartsch am Freitag im Bundestag) bei der christsozialen Basis schlecht ankam und der Staatspartei CSU ihr schlechtestes Ergebnis seit 1950 bescherte.
Doch so einfach ist das nicht, die Koalition der Unwilligen steckt in einer klassischen Zwickmühle. Räumt sie die von etlichen Seiten bedrohten Stellungen, muss sie sich fragen lassen, ob das alles nicht mehr stimme, was sie jahre-, ja in der deutschen Asylpolitik jahrzehntelang vertrat: Dass Aufnahme nur weitere Migration auslöse – was die Forschung über Wanderungsursachen wie die Untersuchung von Migrationshöhepunkten widerlegt hat.
Oder dass man Migration wirklich wirksam steuern, dass man zwischen wünschenswerten und andere Geflüchteten oder Wandernden unterscheiden könne, dass die Aufnahmebereitschaft der Gesellschaft in Gefahr sei, wenn man nicht nach festen Kriterien kontrolliere.
Damit haben sich Teile der etablierten Politik, nicht nur im konservativen Lager Erzählungen geschaffen, die ihnen jetzt vorgehalten werden können, auf jeden Fall aber nicht so leicht loszuwerden sind. Das Problem für den Bundesinnenminister und Gleichgesinnte besteht genau darin: Das Naheliegende und (auch politisch-taktisch) Vernünftige zu tun, könnten sie mit einem massiven Glaubwürdigkeitsverlust bezahlen. (mit AFP)