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Dublin-III und die Bundeseinheitlichkeit waren seine Argumente. Horst Seehofer hat Nein zur Länderaufnahme gesagt.
© Bernd von Jutrczenka/dpa

Das Seehofer-Nein zur Länderaufnahme: Warum seine Argumente nicht überzeugen

Würden Berlin und Thüringen Flüchtlinge aus Moria aufnehmen, wäre das gelebte europäische Solidarität - und kein Bruch von EU-Recht. Ein Gastbeitrag.

- Helmut Philipp Aust ist Professor für Öffentliches Recht an der Freien Universität Berlin. Gesine Schwan ist Präsidentin der Humboldt-Viadrina Governance Platform und Vorsitzende der Grundwertekommission der SPD.

Die EU muss dringend in die Lage kommen, ihre Werte und ihre Lebensweise zu behaupten. Um international handlungsfähig zu sein, muss sie mit einer Stimme sprechen. Dazu braucht sie eine grundlegende innere Gemeinsamkeit der Werte und Interessen.

Daran hindert sie gegenwärtig neben der Rechtsstaatlichkeitskrise in einigen ihrer Mitgliedstaaten ein gravierender Konflikt: die Uneinigkeit über eine gemeinsame europäische Asyl- und Einwanderungspolitik. Sie teilt die EU in Nord und Süd, Ost und West und spaltet nicht zuletzt viele nationale politische Gesellschaften, was wir auch in Deutschland schmerzhaft erleben müssen.

Eine europäische Einigung liegt deshalb im Interesse aller –  aller einheimischen Europäer, aber auch der Geflüchteten. Sie ist auch möglich, wenn man die Aufnahme von Geflüchteten auf Freiwilligkeit gründet und dadurch eine gerechte Lösung für alle findet, die auf dem europarechtlichen Grundsatz der Solidarität beruht. Nur diese innere Solidarität wird es der EU ermöglichen, ihre Handlungsfähigkeit auch in der globalen Arena unter Beweis zu stellen.

Unter der deutschen Ratspräsidentschaft bietet sich die Chance, hier einen großen Schritt voranzukommen. In diesem Kontext verdient das Vorhaben der drei Bundesländer Berlin, Niedersachsen und Thüringen Aufmerksamkeit, aus humanitären Gründen zusätzliche Flüchtlinge aus den Lagern auf den griechischen Inseln aufzunehmen.

Bundesinnenminister Horst Seehofer hat diesem Vorhaben allerdings seine Zustimmung verweigert und entsprechende Anträge der Länder Berlin und Thüringen  - unter Bedauern – abgelehnt. Wie er schreibt, hindern ihn daran rechtliche Gründe. Was sind diese rechtlichen Hindernisse und gäbe es Möglichkeiten sie zu überwinden? In unserer Analyse stützen wir uns exemplarisch auf das Schreiben des Bundesinnenministers an seinen Berliner Amtskollegen Geisel vom 8. Juli diesen Jahres.

Die rechtliche Ausgangssituation ist zunächst erst einmal einfach. Nach Paragraph 23 des Aufenthaltsgesetzes können die obersten Landesbehörden u.a. aus humanitären Gründen die Aufnahme von Ausländern anordnen. Zugleich benötigen sie dafür die Zustimmung („Einvernehmen“) des Bundesministeriums des Innern. Dieses Erfordernis soll die Bundeseinheitlichkeit der Asyl- und Zuwanderungspolitik sicherstellen.

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In seiner ablehnenden Antwort an den Berliner Innensenator beruft sich der Bundesinnenminister auf zwei Gründe, die gegen das vom Land Berlin vorgeschlagene Aufnahmeprogramm sprechen würden und die es ihm verwehren würden, das erforderliche Einvernehmen zu dem Berliner Begehren zu erteilen.

Dabei geht es zum einen um die im Aufenthaltsgesetz als Zielrichtung der Vorschrift genannte Bundeseinheitlichkeit, zum anderen um die Übereinstimmung eines Landesaufnahmeprogramms mit dem EU-Recht.

Das Erfordernis der Bundeseinheitlichkeit ist dabei in diesem Kontext ein zweischneidiger Wert. Von vornherein spricht der Wortlaut des Gesetzes gerade dafür, dass hier auch einzelne Bundesländer handeln dürfen. Aus der alleinigen Tatsache heraus, dass sich nicht alle Bundesländer an einem Programm der Landesaufnahme beteiligen, sollte also nicht gefolgert werden, dass das Einvernehmen zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit verweigert werden muss.

Es entspricht dabei in der Tat der bisherigen Praxis, sich im Rahmen der gemeinsamen Konferenz der Innenminister von Bund und Ländern auf eine gemeinsame Vorgehensweise zu einigen. Zwingend ist dies allerdings nicht. Wäre immer ein Handeln aller Bundesländer erforderlich, so hätte es nahe gelegen, den Paragraphen 23 anders herum aufzuzäumen und von einer bundeseinheitlichen Lösung auszugehen, aus der sich einzelne Länder ausklinken können und etwa die Aufnahme von Personen aus humanitären Gründen verweigern.

Berlins Wunsch steht nicht im Widerspruch zu den Dublin-III-Regeln

Der zweite Einwand des Bundesinnenministers bezieht sich auf das EU-Recht. Aus seinem Schreiben an den Berliner Innensenator Andreas Geisel geht hervor, dass das vom Land Berlin geplante Aufnahmeprogramm im Widerspruch zu den Regelungen des Dubin-Systems stehen würde. Und ohnehin sei das Instrument der Länderaufnahme nicht für Fälle gedacht, in denen sich die fraglichen Personen bereits auf dem Hoheitsgebiet eines Staates der Europäischen Union befinden. Dieses Argument überzeugt in der Sache ebenfalls nicht.

Die Dublin III-Verordnung hält Regelungen zur Bestimmung der Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren bereit. Verhindert werden soll neben ungesteuerter Sekundärmigration das Phänomen der „refugees in orbit“, also einer Situation in der sich kein EU-Mitgliedstaat findet, der bereit ist ein Asylverfahren durchzuführen. Darum geht es hier aber gerade nicht.

Paragraph 23 des Aufenthaltsgesetzes erlaubt es den Ländern, unmittelbar einen Aufenthaltstitel zu schaffen. Es ist diskutabel, ob es sinnvoll sein könnte, die Landesaufnahmeprogramme als Form des Selbsteintritts auszugestalten und sodann auch ein Asylverfahren durchzuführen.

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Das Dublin-System steht einer Aufnahme von Geflüchteten aus anderen EU-Mitgliedstaaten aber nicht entgegen, zumindest solange solche Aufnahmen die allgemeine Zuständigkeitsentscheidung nicht fundamental unterlaufen und in Absprache mit dem anderen Mitgliedstaat erfolgen. Landesaufnahmeprogramme wie die Vorstöße aus Berlin und Thüringen rufen keinen Konflikt mit dem unionsrechtlichen Anwendungsvorrang hervor.

Eine andere Frage ist es, ob der Bundesinnenminister sein Einvernehmen rechtswidrig verweigert hat und ob dies in einem gerichtlichen Verfahren geklärt werden kann. Eine eindeutige Rechtswidrigkeit der Entscheidung Seehofers können wir nicht erkennen. Ebenso wie die Entscheidung der Länder für die Aufnahme von Geflüchteten nach Paragraph 23 eine Ermessensentscheidung ist, steht die Erteilung des Einvernehmens nach der gleichen Vorschrift im Ermessen des Bundesministeriums des Innern und ist schon der Sache nach nur begrenzt gerichtlich überprüfbar.

Ob für die Versagung des Einvernehmens ein geeigneter Rechtsweg verfügbar ist, steht im Übrigen auf einem anderen Blatt. Und rechtspolitisch spricht auch einiges dagegen, den Konflikt in die Arena der Gerichte zu verlegen. Ein Erfolg der klagenden Länder könnte schnell zu einem Pyrrhussieg werden. Mit entsprechenden politischen Mehrheiten ließe sich die gesetzliche Möglichkeit zur Landesaufnahme auch aus dem Aufenthaltsgesetz streichen. Dann wäre in der Sache nichts gewonnen. Sinnvoll erscheint uns daher ein von Bund und Ländern konstruktiv geführter Dialog in dieser Sache.

Das Thema käme weg vom politischen Machtpoker

Es wäre dem Bundesminister jedenfalls möglich gewesen, zu einer anderen Entscheidung zu kommen und den Ländern Berlin und Thüringen die Aufnahme von Geflüchteten von den griechischen Inseln im Geiste der europäischen Solidarität zu ermöglichen.

Eine solche Entscheidung würde die  gemeinsame europäische Asyl- und Einwanderungspolitik deutlich voranbringen. Auch langfristig. Denn die freiwillige Aufnahme durch Länder (und die zu ihnen gehörenden Gemeinden) würde das Thema ein Stück weit vom politischen Machtpoker im Mehrebenensystem zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten befreien.

Das stete Beharren auf einer gesamteuropäischen Lösung wird umso unglaubwürdiger, je länger die humanitär unvertretbaren Situationen auf den griechischen Inseln andauern. Aber widersprechen wir uns hier nicht? Stehen nicht „Alleingänge“ einzelner Staaten, Bundesländer und Gemeinden als solches einer europäischen Einigung in der Sache im Weg?

Wir meinen nein – und zwar aus der Überlegung heraus, dass hier Europa und seine Werte auch lokal gedacht werden müssen. Es handelte sich bei der Landesaufnahme beileibe nicht um einen deutschen Sonderweg, der – wieder? – die europäischen Partner brüskieren würde.

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Vielmehr wäre die Erteilung des Einvernehmens durch das Bundesministerium des Innern ein doppeltes Signal: Unterstrichen würde zugleich, dass die oftmals in diesem Kontext angeführten europäischen Werte ernst genommen werden und dass die aufnehmenden deutschen Länder und Kommunen Teil einer europäischen Bürgerbewegung sind, die sich bereits heute grenzüberschreitend vernetzt.

Die Bürgersolidarität mit den Flüchtlingen, die unter schlimmen Bedingungen in griechischen Lagern leben, ist groß. In ganz Europa. (Foto von einer Demonstration in Berlin am 11. August 2020)
Die Bürgersolidarität mit den Flüchtlingen, die unter schlimmen Bedingungen in griechischen Lagern leben, ist groß. In ganz Europa. (Foto von einer Demonstration in Berlin am 11. August 2020)
© Britta Pedersen/dpa

Faktisch haben sich längst – auch in Mittelosteuropa - viele Kommunen bereiterklärt, Flüchtlinge aufzunehmen, aus humanitären Gründen, aber auch aus eigenem Interesse. Ihre Zahl würde erheblich wachsen, wenn die EU im Zuge ihrer Finanzierung der wirtschaftlichen Erholung nach Corona die aufnahmebereiten Kommunen sowohl bei der Integration der Geflüchteten als auch – am besten in gleicher Höhe – bei der allgemein kommunalen  Entwicklung für neue notwendige Investitionen unterstützen würde.

Das könnte als gesamteuropäische Aufgabe aus einem europäischen „Kommunalen Integrations- und Entwicklungsfonds“ geschehen. In diesem Sinne gelesen sind Länderaufnahmeprogramme gelebter Ausdruck europäischer Solidarität. Es ist an der Zeit, dass wir in Europa alle begreifen: Eine konstruktive Antwort auf die Asyl- und Flüchtlingsfrage würde viel Leid ersparen und Europa in Stand setzen, seine Rolle in der globalen Arena endlich zu spielen.

Helmut Philipp Aust, Gesine Schwan

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