zum Hauptinhalt
Der Kreml will mit dem feierlichen Militäraufmarsch für eine patriotische und optimistische Stimmung vor dem Referendum sorgen.
© Sergei Bobylev/imago images/ITAR-TASS
Update

Putin befiehlt Pause von der Pandemie: Wieso Russland behauptet, das Coronavirus „besiegt“ zu haben

Russland holt Militärparade und Verfassungsreferendum nach. Das Ende des Lockdowns soll die Bürger für die Abstimmung begeistern.

In Moskau steht in diesen Tagen wieder einmal alles im Zeichen des Sieges. Gut zehn Wochen lang mussten Millionen in ihren Wohnungen bleiben. Doch seit Anfang Juni ist der strikte Lockdown aufgehoben, Tausende zieht es seitdem in Parks, auf die Straßen und Terrassen der Straßencafés. Zuvor durften die Moskauer nur mit Passierschein nach draußen. Nun soll Moskau, verkündete Bürgermeister Sergej Sobjanin, zum überraschend abrupten Ende der Ausgangssperre, „zum normalen Lebensrhythmus zurückkehren“.

Zur ersten Großveranstaltung lud eine Buchmesse auf den Roten Platz. Zum russischen Nationalfeiertag am 12.Juni, verlieh Präsident Wladimir Putin dem russischen Ärztepräsidenten einen Orden – ohne Abstand und Schutzmaske. Putin hatte schon Ende Mai den Höhepunkt der Corona-Infektionswelle als überwunden erklärt. Anfang Juni gratulierte Sobjanin den Menschen zum „Sieg“ über das Virus.

Die Zahlen allerdings sagen etwas anderes. Russland ist weiterhin ein Corona-Zentrum. Mehr als 590.000 Infizierte sind Stand Montag offiziell gemeldet. Mehr Corona-Fälle haben nur die USA und Brasilien. Die Zahl der Neuinfektionen in Russland steigt seit wenigen Tagen zwar nicht mehr ganz so stark, liegt aber noch immer bei fast 8000 pro Tag. 

Allein am Wochenbeginn waren es 7600 neue Fälle im Land. Offiziell sind 8206 Menschen seit Ausbruch der Pandemie gestorben. Aus der am stärksten betroffenen Hauptstadt verlagert sich das Infektionsgeschehen zunehmend in andere Regionen. Nach einem Sieg über das Virus sieht das nicht aus.

Doch soll Corona jetzt in den Hintergrund treten, zu wichtig sind die kommenden Tage für Putin. Gleich zwei herausragende Termine stehen auf der Agenda: eine große Militärparade zum Gedenken an den Sieg über Nazi-Deutschland – und ein Referendum über die Verfassungsänderung. Beides musste zuvor wegen der Pandemie verschoben werden.

Panzer und Desinfektionsmittel: Moskau bereitet sich auf die große Militärparade vor. Das Coronavirus ist keineswegs besiegt.
Panzer und Desinfektionsmittel: Moskau bereitet sich auf die große Militärparade vor. Das Coronavirus ist keineswegs besiegt.
© Alexander Zemlianichenko/AP/dpa

Die Parade hätte am Tag des Sieges stattfinden sollen, den Russland am 9. Mai begeht. Als Ersatztermin ist nun der 24. Juni auserkoren. An diesem Datum vor 75 Jahren zog die erste große Siegesparade über den Roten Platz. Die historische Verbindung ist damit gegeben, neben der Vergangenheit steht aber diesmal auch die Zukunft im Fokus. Direkt im Anschluss an den prunkvollen Aufmarsch sind die Russen aufgerufen, bis zum 1. Juli ihr Votum über die geänderte Verfassung abzugeben. 

[Wenn Sie alle aktuellen Informationen live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können]

Der Kreml will mit den Feierlichkeiten für eine patriotische und optimistische Stimmung vor dem Referendum sorgen. Die Parade und mit ihr die Erinnerung an den Sieg gegen Hitler sind schon immer von großer Bedeutung für die kollektive Identität des Landes – und ebenso für die Kreml-Ideologie. Die Zufriedenheit steigern sollen die neuen Freiheiten, die die Moskauer seit dem überraschend schnellen Ende des Lockdowns genießen.

Das Vertrauen in Putin ist gering

Gute Stimmung braucht Putin in diesen Tagen dringender als je zuvor. Der Präsident verliert an Rückhalt. Gerade einmal 25 Prozent schenken ihm nach einer Umfrage der unabhängigen Meinungsforscher des Lewada-Zentrums noch das Vertrauen. Die zögerliche Reaktion im Kreml auf das Coronavirus kostete Putin Unterstützung.

Noch mehr aber ist es Ausdruck einer wachsenden Unzufriedenheit, insbesondere der Machtausbau durch die neue Verfassung stößt auf Kritik: Sie erlaubt dem 67 Jahre alten Staatschef zwei weitere Amtszeiten. Putin könnte, sofern er will, bis ins Jahr 2036 regieren. Nicht allen Russen gefällt die Aussicht auf einen ewigen Putin. Unterzeichnet hat der Präsident die Änderung bereits. In Kraft setzen will er sie aber erst, wenn es eine Mehrheit bei der Abstimmung gibt. Dem Machtausbau gibt er so einen demokratischen Anstrich. Eine Niederlage ist nicht vorgesehen.

„Wir haben das Coronavirus besiegt“

Corona soll dabei nicht noch einmal Putins Pläne durchkreuzen. Deshalb verordnete der Kremlchef eine Pause vom Virus. „Wir haben das Coronavirus besiegt“ lautete ein zum Nationalfeiertag verbreiteter Slogan. 

Der Satz ist inzwischen zum geflügelten Begriff geworden, mit dem sich vor allem Kritiker über die Politik der Verdrängung mokieren. „Das war’s. Wir haben das Coronavirus besiegt“, spottete etwa Kira Jarmysch aus dem Team von Kreml-Kritiker Alexej Nawalny auf Twitter. „Zwei Wochen vor der Parade und der Abstimmung, welch ein Glück!“ Oppositionelle rufen zum Boykott der Abstimmung auf, auch damit die Menschen im Wahllokal nicht ihre Gesundheit riskieren. Die Furcht vor einer zweiten Corona-Welle ist groß.

Mehrere russische Städte haben, anders als Moskau, geplante Militärparaden in der kommenden Woche abgesagt. Auch Moskaus Bürgermeister Sobjanin hätte die strikten Maßnahmen gegen das Virus lieber noch fortgesetzt und die Öffnung von Restaurants, Schönheitssalons und Schwimmbädern hinausgezögert. Letztere dürfen ab Dienstag wieder aufmachen – einen Tag vor der Parade. Auch Standesämter nehmen dann den Betrieb wieder auf.

Präsident Wladimir Putin regiert Russland per Videokonferenz und unter hohen Sicherheitsvorkehrungen in seiner Residenz vor den Toren Moskaus. 
Präsident Wladimir Putin regiert Russland per Videokonferenz und unter hohen Sicherheitsvorkehrungen in seiner Residenz vor den Toren Moskaus. 
© Alexei Nikolsky/imago images/ITAR-TASS

Wer zu Putin will, muss durch einen Desinfektionstunnel

Das Tempo, mit dem die Maßnahmen zurückgefahren wurden, soll selbst Sobjanin überrascht haben. Er hatte noch Ende Mai erklärt, die „Selbstisolation“ dürfe erst enden, wenn die Zahl der Neuinfektionen auf maximal wenige Hundert pro Tag gesunken sei. Durchsetzten konnte sich Sobjanin allerdings nicht. Putin höchstpersönlich, so berichtet es das russische Exil-Medium „Meduza“ unter Berufung auf Quellen in der Präsidialverwaltung, soll über das Ende der Beschränkungen in der Hauptstadt verfügt haben. Dem Bürgermeister blieb nur die Warnung: „Der Kampf ist noch nicht vorbei.“

Auch Putin scheint dies durchaus bewusst. Seit Wochen regiert der Präsident weitgehend isoliert in seiner Residenz vor den Toren Moskaus. Enge Kontaktpersonen müssen sich regelmäßig auf Covid-19 testen lassen. Wer zu Putin vorgelassen wird, muss zudem einen speziellen Tunnel passieren und sich mit Desinfektionsmittel besprühen lassen. Knapp 80 Veteranen, die bei der Parade mit Putin zusammentreffen sollen, mussten zuvor für 14 Tage in Quarantäne. Moskaus Bürger, erklärte Kremlsprecher Dmitri Peskow, sollten sich die Parade am besten zu Hause im Fernsehen ansehen.

Zur Startseite