Russland hat Rekordanstieg an Corona-Infektionen: Unzureichender Schutz, überforderte Helfer und mysteriöse Fensterstürze
In Russland steigen die Infektionen, das Gesundheitssystem stößt an seine Grenzen. Und das Land rätselt, wieso drei Mediziner nach Kritik aus Fenstern fielen.
Diese Woche hätte ein Triumph für Wladimir Putin werden sollen. Der Sieg über Hitler-Deutschland vor 75 Jahren ist die große kollektive Erinnerung, welche die russische Gesellschaft eint. Der 9. Mai, an dem Russland den Sieg feiert, ist einer der wichtigsten Feiertage. Präsident Putin nutzt das historische Ereignis in der Regel, um sich in Szene zu setzten. Doch in diesem Jahr ist alles anders. Die traditionelle Militärparade auf dem Roten Platz muss ausfallen. Erst nach Zögern wurde sie Mitte April abgesagt – wegen Corona.
Für Russland ist der Kampf gegen das Virus alles andere als ein Triumph, immer mehr offenbart sich eine Tragödie. Fünf Tage in Folge meldeten die Behörden mehr als 10.000 neue Infektionen. Landesweit haben sich somit, Stand Donnerstag, mehr als 177.000 Menschen infiziert. Die Zahl der Todesopfer stieg auf mehr als 1600. Mehr als die Hälfte davon in Moskau. Russlands Hauptstadt ist das Zentrum der Epidemie im Land. Allein am Dienstag kamen 50 neue Todesfälle hinzu.
Geschönte Zahlen und Mangel an Ausrüstung
Die Zahlen sind mit Vorsicht zu betrachten, die Dunkelziffer dürfte höher liegen. Ärzte sprechen von geschönten Zahlen. Sie erklärten, dass bei Sterbefällen für die Statistik mitunter eine andere Todesursache als Covid-19 eingetragen werde.
Unterdessen mehren sich Berichte, wie das Gesundheitssystem an seine Grenzen stößt. Russland, das zu Beginn der Pandemie glimpflich davonzukommen schien, ist dem Virus inzwischen offenbar immer weniger gewachsen. Ärzte, Pfleger und Sanitäter klagen seit Wochen über fehlende Schutzausrüstung, Masken, Brillen, Desinfektionsmittel. Auch soll es zu wenige Tests für medizinisches Personal geben.
Weil Schutz fehlt, werden Kliniken zu Infektionsherden. Außerdem werfen drei Fensterstürze in kurzer Zeit gerade ein Schlaglicht auf die Arbeitsbedingungen für medizinisches Personal.
Der Chef der russischen Ärztekammer, Leonid Roschal, sagte der Zeitung „Kommersant“, bei einer nicht öffentlichen Sitzung von Experten im vorigen Jahr sei festgestellt worden, dass das Gesundheitssystem nicht bereit sei für einen Ausnahmezustand. Er ärgere sich, dass er das nicht damals laut öffentlich gesagt habe.
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Die Corona-Retter werden selbst zu Opfern
Jewgenija Bogatyrjowa, Rettungssanitäterin aus dem Moskauer Umland und regionale Vertreterin der Medizin-Gewerkschaft Dejstwije, berichtete der „Moscow Times“ kürzlich, dass sie jeden Tag Anrufe von Rettungswagen-Besatzungen bekomme, die darüber klagten, an Fieber und Atemwegsbeschwerden erkrankt zu sein und nicht mehr arbeiten könnten, sagte sie „Wir scherzen, dass, wenn das Virus uns nicht tötet“, so Bogatyrjowa, „dann die Erschöpfung.“ Eine andere Sanitäterin berichtete, sie musste Patienten „wieder nach Hause fahren, weil in Krankenhäusern kein Platz ist“.
Eine Krankenschwester aus Moskau berichtete in einem Video, dass sie ihre Schutzkleidung nicht regelmäßig wechseln könne, weil nicht genügend Material vorhanden sei. Damit setzte sie andere Patienten ein Risiko aus. In Kaliningrad an der Ostsee legten nun hunderte Klinikmitarbeiter die Arbeit nieder, weil es an Schutzausrüstung fehlt.
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Landesweit mussten bislang zwei Dutzend Krankenhäuser unter Quarantäne gestellt werden, nachdem sich große Teile der Belegschaft infiziert hatten. Im April traf es eine Klinik mit fast 700 Patienten und 260 Mitarbeitern in Sankt Petersburg. Die Nachrichtenseite Fontanka nannte die Einrichtung eine „harte Version des Kreuzfahrtschiffes Diamond Princess“. Die erkrankten Ärzte behandelten die Patienten weiter: „Was sollten wir sonst tun? Wir hatten keine andere Wahl“, zitierte die Nachrichtenseite Meduza den Chirurgen Dmitri Ptaschnikow.
2000 Ärzte in Moskau infiziert
In wieder einem anderen Krankenhaus nahe Moskau forderten die Mitarbeiter Ermittlungen gegen die Klinikverwaltung, nachdem 52 Ärzte sich mit dem Coronavirus infiziert hatten. Ihr Vorwurf: Erkrankte seien nicht isoliert worden, für Personal habe, wieder einmal, nicht genügend Schutzausrüstung bereitgestanden.
In Moskau sollen sich nach Angaben von Bürgermeister Sergej Sobjanin in den vergangenen Wochen insgesamt 2000 Ärzte mit Covid-19 infiziert haben.
Eine Gruppe russischer Mediziner richtete eine Internetseite ein, auf der sie die Namen aller während der Epidemie verstorbenen Ärzte und Pfleger aufführen. Mehr als 100 Namen stehen bislang auf der „Liste des Gedenkens“. Es handele sich jedoch nicht um eine verlässliche Statistik, erklärte der Moskauer Kardiologe und Mit-Initiator Alexej Erlich, es gehe darum, an Kollegen zu erinnern, die bei der Arbeit an Covid-19 oder aufgrund von durch das Virus verursachten Komplikationen gestorben seien.
Medizinisches Personal sei einer besonderen Gefahr ausgesetzt, kritisiere Erlich weiter, weil sie jeden Tag mit Coronavirus in Kontakt kommen und dabei nicht nur Schutzausrüstung fehle, sondern mit Patienten falsch umgegangen werde, weil die Infektionsgefahr nicht begriffen oder Infektionen verschleiert würden.
Mysteriöse Fensterstürze
Besondere Aufmerksamkeit erlangte zum Wochenbeginn das Unglück des Notarztes Alexander Schulepow aus der Region Woronesch, 550 Kilometer südlich von Moskau. Der Mediziner in der Ambulanz des Bezirkskrankenhauses hatte sich mit Covid-19 infiziert und in einem Video in sozialen Netzwerken darüber beklagt, dass ihn der Chefarzt zunächst trotzdem weiter zur Arbeit gezwungen habe.
Anfang Mai stürzte der 37-Jährige aus einem Fenster seines Krankenhauses, wo er nun selbst wegen Covid-19 lag. Der Arzt überlebte den Fall aus dem zweiten Stock, liegt aber mit Schädelbruch auf der Intensivstation.
Schulepow ist der dritte russische Arzt, der in den vergangenen Tagen unter mysteriösen Umständen aus einem Fenster stürzte.
Ende April war die Leiterin des Rettungsdienstes in Swjosdny Gorodok bei Moskau, Natalja Lebedewa, nach einem Fenstersturz gestorben. Sie war zuvor mit Verdacht auf Covid-19 ins Krankenhaus gekommen. Offizielle Todesursache ist ein Unfall. Ihre Kollegen, berichtete die Zeitung „Moskowski Komsomolez“, gehen jedoch von Suizid aus. Vorgesetzte solle Lebedewa beschuldigt haben, mehrere Untergebene mit dem Coronavirus infiziert zu haben.
Russisches Gesundheitssystem ist unterfinanziert
Ebenfalls Ende April stürzte die Leiterin einer Klinik für Kriegsveteranen im sibirischen Krasnojarsk, Jelena Nepomnjaschtschaja, aus dem Fenster und erlag wenig später ihren Verletzungen. Ein lokaler Fernsehsender berichtete, dem Vorfall sei eine Telefonkonferenz mit dem regionalen Gesundheitsminister vorausgegangen, in dem sie sich gegen die Gründung einer eigenen Station nur für Corona-Patienten ausgesprochen habe – weil das Krankenhaus nicht über genügend Schutzausrüstung und geschultes Personal verfüge.
Anastasia Wassiljewa, oberste Vertreterin der Gewerkschaft Ärzteallianz, glaubt nicht, dass jemand absichtlich Ärzte attackiere. Die Vorfälle, erklärte sie dem US-Sender CNN, zeigten vielmehr den großen Stress, unter dem Ärzte während der Pandemie in einem unterfinanzierten System stünden.
„Es geht hier um die Zerstörung unseres Gesundheitssystems“, kritisierte Wassiljewa. „Viele Kliniken und Krankenhäuser wurden geschlossen und das bedeutet natürlich, dass es sehr schwierig ist, unter solchen Bedingungen viele Patienten mit Coronavirus zu behandeln.“
Putins Beliebtheit leidet
Wann sich die Lage in Russland entspannt, ist unklar. Erste Stimmen sehen zwar ein gutes Zeichen darin, dass sich das Wachstum bei den Neuinfektionen von Dienstag auf Mittwoch etwas verlangsamt hatte, von sieben auf nun 6,8 Prozent. Der Chef-Pneumologe im Gesundheitsministerium, Sergej Awdeew, erklärte dagegen, Russland habe den Höhepunkt der Krise noch nicht erreicht. Grund sei, dass die Bürger die Ausgangssperren nicht einhielten.
Zwar gilt als ein Grund für die zuletzt rasant gestiegene Zahl der Infektionen die zunehmende Zahl an Tests. Die Moskauer Stadtverwaltung hat eigenen Angaben zufolge Tests zuletzt verdoppelt, 40.000 würden nun jeden Tag durchgeführt.
Gleichzeitig führt wohl auch der laxe Umgang mit den Ausgangssperren zu neuen Infektionen. Die Nationalgarde setzt nun Drohnen und Hubschrauber ein, um die Einhaltung der Isolationsregeln rund um den Feiertag zum Weltkriegsgedenken zu überwachen.
Kremlchef Putin warnte derweil vor vorschnellen Lockerungen der Corona-Maßnahmen. Jedes überstürzte Handeln könne das bisher Erreichte zunichtemachen, erklärte er am Mittwoch. Dennoch sollen vom 12. Mai an erstmals Lockerungen im Shutdown möglich werden. Die Verantwortung dafür, so Putin, liege in den jeweiligen Regionen und sei abhängig von den Infektionszahlen.
Der Präsident verliert derweil an Zustimmung in der Bevölkerung. Im April seien 59 Prozent der Befragten mit seiner Politik einverstanden gewesen, teilte das Meinungsforschungsinstitut Lewada mit. Es ist der niedrigste Umfragewert seit mehr als zwei Jahrzehnten – weit entfernt von jedem Triumph.