Großbritannien: Wie weiter beim Brexit?
Auch wenn die Zeit drängt: Die Annäherung an die Wirklichkeit beim Thema Briten und EU erfolgt sehr gemächlich. Ein Kommentar.
Wie verhindert man, dass eine potenzielle Katastrophe zu einer realen Katastrophe eskaliert? Durch Gespräche, einen Sinn für das Mögliche und ein Minimum an Vertrauen in das Gegenüber. Was fehlt am schmerzlichsten im Brexit-Prozess? Realitätssinn und Vertrauen. Doch nur nicht Bange machen lassen, „help is on the way“. Die Uhr tickt, der Handlungsdruck wächst.
Die Annäherung an die Wirklichkeit und die Vertrauensbildung erfolgen mit der Gemächlichkeit eines mäandernden Flusses, der eine Schleife und noch eine und noch eine nimmt und sich nur zwischendurch Richtung Meer bewegt. In London, das hat Theresa May zutreffend analysiert, wissen jeweils klare Mehrheiten, was sie nicht wollen: nicht den vorliegenden Vertrag, keinen „No deal“-Brexit, kein Misstrauensvotum, keine Neuwahlen – und kein zweites Referendum, auch wenn das nicht ganz so offensichtlich ist.
Neuwahlen wären keine Lösung
Zu welchem real möglichen Ausweg würde das Parlament Ja sagen? Das ist nicht zu erkennen. Noch nicht. Vorerst hilft es beim Vorankommen, wenn das, was nicht geht, nach der Methode „Trial and Error“ aussortiert wird. Die Pointe: Am Ende wird sich das Parlament wohl wieder der Option zuwenden, die es gerade krachend abgelehnt hat: einem Austrittsvertrag mit der EU.
Neuwahlen wären keine Lösung, sondern die nächste Warteschleife, weil Jeremy Corbyn die Labour-Partei führt. Die Mehrheit der Briten will ihn nicht als Premierminister. Er wäre die Garantie, dass die Konservativen die Wahl gewinnen. Auf ein zweites Referendum, diesmal pro EU, hoffen die Deutschen, einige andere Europäer und auch viele Briten. Es gibt aber keine rechte Begeisterung dafür auf der Insel. Alle wissen: Die Gesellschaft ist gespalten, der Ausgang wäre abermals knapp. Bei einem erneuten Nein wäre für die Gespräche mit Brüssel nichts gewonnen. Endet die zweite Abstimmung hingegen pro EU, würde das den Streit nicht befrieden. Großbritannien bliebe vorerst in der EU, aber als unsicherer Kantonist. Und bald würden auch die Brexiteers das Recht auf ein weiteres Referendum einfordern. Wie oft soll das so weitergehen?
Die Briten wollen Kontrolle zurückgewinnen
Wie man es dreht und wendet: Tory-Regierung und EU müssen eine Lösung finden. Eines ist beruhigend in der verfahrenen Lage: Auch bei den Briten trifft „No deal“ auf die größte Ablehnung. Eher halten sie die Uhr an, um Zeit zu gewinnen. Nur ungern wollen sie die EU darum bitten. Denn dann sind sie vom Wohlwollen aller 27 EU-Partner abhängig. Sie wollen doch heraus, um „Kontrolle zurückzugewinnen“. Der selbstbestimmte britische Weg, Zeit für Nachverhandlungen zu gewinnen, wäre die Rücknahme der Austrittserklärung. Das dürfen sie einseitig, sagt der Europäische Gerichtshof.
Es braucht einen Handelsvertrag mit einer Irland-Lösung
Dann wäre Realitätssinn auf dem Kontinent gefragt. Wollen die Briten doch bleiben? Das wäre ein Irrtum. Die Briten diskutieren die Variante, um Zeit für Nachverhandlung zu gewinnen. Ihnen geht es um den „Backstop“. Und um Vertrauen. Der „Backstop“ besagt: Nach dem Austritt darf es keine Zoll- und Handelsgrenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und der britischen Provinz Nordirland geben, weil das den Friedensprozess nach dem Bürgerkrieg gefährdet. Großbritannien muss in der Zollunion mit der EU bleiben, bis ein Handelsvertrag mit einer Irland-Lösung vorliegt. Die Briten beklagen: Dann kann die EU uns erpressen wie im Streit um die Fischereirechte. Es hinge von der EU ab, ob und wann das Königreich seine Souveränität zurückerhielte.
Letzlich geht es um Vertrauen
London möchte den „Backstop“ befristen. Zwei Jahre seien genug, um den Vertrag zu schließen. Die EU müsste darauf vertrauen, dass die Briten eine Lösung wollen. Nach Fristende wäre der „Backstop“ als Absicherung wertlos. Nur: Warum soll die EU darauf vertrauen?
London sagt, die EU habe das Risiko eines Austritts ohne Irland-Lösung schon jetzt: Das sei der harte Brexit. Sie verschlechtere ihre Position nicht, wenn sie den „Backstop“ befriste. Und dann würde das Parlament zustimmen. In Brüssel macht das wenig Eindruck. Es wird noch einige Mäander geben, ehe Realitätssinn und Vertrauen das nötige Maß erreichen.