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Großbritannien, London: Ein Demonstrant vor den Houses of Parliament, dem Westminster-Palast, schwenkt eine EU-Flagge und eine britische Flagge.
© Tim Irland/XinHua/dpa

Großbritannien: Nach dem Scheitern kommt die Chance

Wie es in der EU weitergeht - und warum nun erst Recht die große Stunde der Verhandler schlägt. Ein Gastbeitrag.

Sie hatte "hart verhandelt" und "unermüdlich" daran gearbeitet, um einen Brexit auf die Beine zu stellen, der "für das gesamte Vereinigte Königreich funktioniert": So hatte die britische Regierungschefin Theresa May noch vor kurzem in einem Gastartikel in der Sunday Times um Unterstützung geworben. Nun ist ihr Brexit-Deal krachend gescheitert, den sie vor wenigen Wochen aus Brüssel mit nach Hause gebracht hatte. Dass der Brexit-Vertrag so eindeutig in Westminster durchfallen würde, hatten auch intime Kenner des britischen Parlaments nicht erwartet. Labour-Führer Jeremy Corbyn stellte sofort die Vertrauensfrage, um seine Widersacherin zu stürzen. Nach dem Abstimmungsergebnis war dies legitim, hilft aber in der Sache grundsätzlich kaum weiter. Das Vereinigte Königreich braucht eine Lösung – mit oder ohne Theresa May.

Bei der jüngsten Abstimmung sind vier Lager sichtbar geworden: Zum ersten zählen jene, die für das Austrittsabkommen gestimmt haben. Zum zweiten diejenigen, die das Austrittsabkommen ablehnen, weil er das Vereinigte Königreich nicht weit genug von der EU wegführt. Und zum dritten gehören die Abgeordneten, die gegen das Austrittsabkommen gestimmt haben, weil es das Vereinigte Königreich zu weit von der EU wegführt. Schließlich gibt es eine vierte Gruppe, die aus unterschiedlichen Motiven heraus den Sturz von Theresa May vorantreibt.

Wie aber sollte es weitergehen, wenn ein harter Brexit noch vermieden werden soll?

Es muss allen klar sein, dass der Ball noch immer in London liegt. Im Vereinigten Königreich muss ein Ausweg aus dieser innenpolitischen Krise gesucht werden. Nach der gestrigen Abstimmung ist ein harter Brexit (No-Deal) zum 29. Märzwahrscheinlicher geworden. Aber auch die Wahrscheinlichkeit für ein zweites Referendum ist gestiegen, obwohl man davon eher nicht ausgehen sollte. Denkbare – aber sehr unwahrscheinliche -  weitere Alternativen sind Neuwahlen oder ein Vorschlag des Unterhauses für eine Zollunion.

Alle Vorschläge müssten aber von einer breiten Mehrheit im britischen Unterhaus getragen sein, damit sie ernsthaft weiterverfolgt werden können. Wenn ein solcher Ausweg gefunden würde, sollte sich der Europäische Rat einer Fristverlängerung für die Verhandlungen nicht verweigern. Im Gegenteil: Man sollte signalisieren, dass man für neue konstruktive Lösungen gerne die Frist verlängert.

Dass jetzt die Kommission einen Vorschlag machen sollte, der im britischen Unterhaus zur Abstimmung gestellt werden soll, wie jetzt von einigen gefordert wird, ist wenig zielführend. Eine solche Einmischung der Europäischen Kommission in die britische Innenpolitik würde nicht funktionieren und wird sogar von europafreundlichen britischen Abgeordneten abgelehnt. Gleiches gilt auch für einen Vorratsbeschluss des Europäischen Rates zur Fristverlängerung. Ein solcher würde als unzulässige Einmischung aus Europa verstanden werden und entsprechende Reflexe auslösen. In dieser sensiblen Situation muss der Befreiungsschlag aus London kommen. In diesem Fall sollten wir als EU27 konstruktiv bereitstehen.

Klar muss aber auch sein und von europäischer Seite verdeutlicht werden, dass auf der aktuellen politischen Grundlage eine Fristverlängerung nicht in Frage kommt. Eine solche würde das Problem nur weiter verschleppen. Nach der gestrigen Abstimmung ist mit einiger Sicherheit klar, dass Premierministerin May für ihren Deal keine Mehrheit aus dem britischen Unterhaus bekommen wird.

Im Ergebnis sind die Aussichten für Theresa May und das Vereinigte Königreich so trübe wie das Londoner Januar-Wetter. Welche Lehren ziehen wir Kontinentaleuropäer daraus? Mir scheinen folgende Aspekte in der momentanen Lage besonders elementar zu sein.

Erstens: Unter den verbliebenen Mitgliedsstaaten der EU muss ein Höchstmaß an Übereinstimmung und Kompromissfähigkeit erreicht werden. Die neue Sachlage und der drohende harte Brexit müssen erst recht bedeuten, dass wir jetzt alle an einem Strang ziehen und inhaltlichen Konsens erreichen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass die EU ein Erfolgsmodell und ein starker Verhandlungspartner für das Vereinigte Königreich bleibt. Je stabiler sich Kontinentaleuropa zeigt, desto geringer werden auch die psychologischen Folgen eines wie auch immer gearteten Brexits ausfallen.

Zweitens: So geschlossen die EU in den Verhandlungen auftreten muss, so agil muss sie dabei auch bleiben - um ihre eigenen Interessen am besten durchzusetzen. Trotz des katastrophalen Abstimmungsergebnisses halte ich es für richtig, die Verhandlungsbereitschaft aufrecht zu halten, die die EU vor Theresa Mays jüngster Niederlage sehr zurückhaltend angedeutet hatte. Nur so kann es uns gelingen, ein zumindest erträgliches Ergebnis zu erzielen. Denn über allem schwebt für mich die Aufgabe, das schlimmste zu verhindern - den "No Deal". Wenn es uns gelingt, auf Augenhöhe geschickt zu verhandeln, könnten wir die politische Spaltung des Vereinigten Königreichs verhindern und das Land vor einer Eiszeit mit der EU bewahren.

Es ist nun der Zeitpunkt gekommen, auch die allerletzten Verhandlungsspielräume auszureizen. Überzeugte Europäer zu sein bedeutet in diesen Zeiten, nicht mit markigen Sprüchen Türen hinter sich zu schließen, sondern neue zu öffnen.

Metin Hakverdi ist Mitglied des Deutschen Bundestages, Brexit-Berichterstatter der SPD-Bundestagsfraktion sowie stellvertretender europapolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion.

Metin Hakverdi

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