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Viktor Orbán
© REUTERS/Bernadett Szabo

Orbáns Parallelwelt: Wie Ungarns Regierungschef EU-Wahlkampf macht

Ungarns Regierung reduziert die EU auf das Thema Migration. Doch die Bevölkerung interessiert sich nicht genug, um das in Frage zu stellen. Ein Gastbeitrag.

In Viktor Orbáns Vorstellung dreht sich in Europa alles nur um Migration, und seine Partei soll die EU vor den „migrationsfördernden Brüsseler Bürokraten“ retten. Die Wahlkampagne in Ungarn ist von wenig Sacharbeit und viel Propaganda geprägt.

Zwar sind die Plakate verschwunden, die EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und George Soros, den US-Milliardär ungarischer Herkunft, versehen mit Andeutungen, die beiden wollten illegale Migration nach Ungarn fördern, zeigten. Doch auch weiterhin ist dieses Thema prägend.

Von den Straßenlaternen lächelt eine fröhliche Familie, die für die Gebärfreudigkeit der Ungarn und die Familienpolitik der Regierung wirbt. Gleich daneben auf dem Poster an einer Bushaltestelle sieht man Ungarns Nationalflagge mit dem Slogan: „Unterstützen wir das Programm von Viktor Orbán und stoppen wir die Migration!“ Dass es bei den Wahlen, für die da geworben wird, um Europawahlen geht, sieht man nicht.

Fidesz und Orbán haben für die Abstimmung am 26. Mai einmal mehr eine Parallelwelt kreiert, wo alles auf ein einziges Thema reduziert wird. Egal ob in der Familien- oder Arbeitspolitik, glaubt man der Regierung, gibt es nur ein Problem: die Migration - und die Regierung tut alles dafür, diese zu stoppen. Die ungarischen Bürger können ihren Teil beitragen, indem sie mehr Kinder bekommen, damit das Land keine Migranten braucht, und mehr Überstunden machen, damit der Arbeitskräftemangel ohne Migranten gelöst wird.

Dass die Zahl der Proeuropäer in Ungarn im Januar dieses Jahres ein Rekordhoch von 85 Prozent erreichte, liegt daran, dass Reisefreiheit und Arbeitsfreizügigkeit sehr geschätzt werden. Ansonsten wissen die Ungarn wenig über die Arbeit der EU. Europa bleibt abstrakt, was für die Regierung viel Spielraum für Manipulation bietet.

In der Eröffnung seiner EU-Wahlkampagne präsentierte Orbán einen Aktionsplan zur „Rettung der christlichen Zivilisation“. Dieser Plan soll die Ungarn außer vor Migranten auch vor einer sogenannten Brüsseler Blase retten, die eine „Supermacht“ sein und die Nationalstaaten auflösen möchte. Ihr Hauptinstrument ist - natürlich - die Migration: Mittels Einwanderung sollen angeblich das Christentum vernichtet, die Nationalstaaten aufgelöst und ein Völkerwechsel in Europa verwirklicht werden.

Warum wird Orbán wieder gewählt?

Als Anführer dieser politischen Richtung nennt Orbán Kommissionspräsident Juncker und den deutschen EVP-Spitzenkandidaten Manfred Weber. Ein bayerischer Katholik würde Ungarn niemals attackieren, so insinuiert Orbán, es sei denn, er komme aus Brüssel. Das bezog sich auf das schwierige Verhältnis zu seiner Parteienfamilie im Europaparlament, der EVP.

Im März war der langjährige Streit zwischen der EVP-Fraktion und Fidesz eskaliert, was mit der Suspendierung der ungarischen Regierungspartei endete. Die EVP hat Orbáns Partei vorerst nicht rausgeschmissen. Orbán quittierte das mit Drohungen: Wenn die EVP weiterhin einen „liberalen“ und „migrationsfördernden“ Kurs nehmen wolle, können sie sicher sein, dass die Fidesz-Partei ihr nicht folge.

Als Ungarin in Berlin höre ich immer wieder die Frage, wieso diese Partei in meinem Heimatland schon seit 2010 wiedergewählt wird, wenn doch so viele in Ungarn glauben, dass Orbán die Demokratie abbaut und immer mehr Freiheitsrechte einschränkt.

Die Opposition ist zerstritten

Meine Antwort ist simpel: Weil es derzeit in Ungarn keine echte Alternative gibt. Die Regierungspartei änderte die Wahlgesetze so, dass es immer schwieriger wurde, sie zu besiegen. Um ehrlich zu sein, weiß ich manchmal selbst auch nicht, wem ich in dieser deformierten politischen Landschaft meine Stimme gegeben soll. Die Opposition ist zerstritten und fragmentiert.

Die größte Oppositionspartei, die ehemals rechtsextreme, nun etwas in die Mitte gerückte Jobbik kämpft mit internen Konflikten und Geldsorgen. Die Demokratische Koalition (DK) startete ihre Kampagne überraschend stark. Sie hat eine neue Spitzenkandidatin, Klára Dobrev, die Ehefrau des ehemaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány, die auch unter den Anhängern der früheren Regierungspartei MSZP (Sozialdemokratische Partei) beliebt ist. Dobrev thematisiert das „Vereinigte Europa“ und bezieht sich dabei auf die Reformvorschläge von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron.

Politische Sacharbeit zählt kaum

Die neue Momentum-Partei kann ebenfalls über die Fünf-Prozent-Hürde kommen, was vor allem an der jüngeren Generation liegt - und an den seit 2010 ausgewanderten Ungarn, mittlerweile mehr als eine halbe Million. Auch in Deutschland hat die Partei eine starke Community aufgebaut.

Die Oppositionsparteien schaffen es aber nicht, sich zusammenzuschließen, von den Narrativen der Regierung Abstand zu nehmen und andere Themen anzustoßen. Gegen manche Politiker laufen zahlreiche Schmierenkampagnen in den Propagandamedien der Regierung, oft auf Boulevardzeitungsniveau. Die eigentliche Sacharbeit zählt in Ungarn immer weniger.

Salvini kommt zu Besuch

Die größere Frage für Orbán ist aber, wie die Machtverhältnisse nach den Wahlen im Europäischen Parlament aussehen und ob Fidesz den schon angekündigten vorzeitigen Abschied von der EVP-Fraktion schafft. Wenn Weber in Brüssel dachte, dass die ungarische Regierungspartei nach der Suspendierung ihrer EVP-Mitgliedschaft auf die Bremsen tritt, hat er sich geirrt.

Orbán wirbt zwar um Plätze im Europäischen Parlament, ist aber zugleich dagegen. Eins jedoch dürfte ihn an der Suspendierung schmerzen, auch wenn er das gern verschweigt: Bis die Untersuchung des sogenannten Rats der Weisen zur Fidesz-EVP-Frage nicht abgeschlossen ist und keine weitere Entscheidung über die Mitgliedschaft der ungarischen Regierungspartei getroffen wird (was allerdings keine Frist hat), darf Fidesz keine ihrer Politiker für Ämter in der EU kandidieren lassen.

Da ist es also kein Zufall, dass Anfang Mai Matteo Salvini, der italienische Innenminister und Initiator einer neuen rechten Allianz in Europa, nach Budapest kommt, um über Kooperationsmöglichkeiten nach den Europawahlen zu sprechen. Eine solche Allianz könnte für Orbán neue Wege eröffnen, ihm ermöglichen, noch stärker gegen Migration zu hetzen und sich dabei als Retter der EU zu präsentieren.

Wenn er aber diesen Weg nimmt, kann Orbán schnell an Salonfähigkeit, aber auch an Macht einbüßen. Er hätte dort nicht die gleich starke Position, die er innerhalb der EVP mit anderen Anti-Migrationskräften ausgebaut hat.

Außerdem könnte so ein Wechsel auch die deutsch-ungarischen Beziehungen schwer belasten. Deutschland als Partner zu verlieren, wäre besonders für die Wirtschaft Ungarns sehr problematisch, weil die Bundesrepublik immer noch Ungarns größter Handelspartner ist. Auch wenn Orbán sich gerade bemüht, die Türen für russische und chinesische Investoren weit zu öffnen, präsentiert er sich gerne als Europäer. Die Frage ist nur, wie lange sollen wir es ihm noch glauben?
Dora Diseri ist eine ungarische Journalistin mit Sitz in Berlin. Ihr Text erscheint in einer losen Reihe, die vorstellt, wie in den anderen Ländern Europas auf die EU und die Europawahlen am 26. Mai geblickt wird.

Dora Diseri

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