Migrationspakt, Europawahl: Wie gefährlich ist rechte Desinformation im Netz?
Rechte streuen in sozialen Netzwerken massiv falsche Informationen. Facebook, Google & Co. schaffen kaum Transparenz, die Politik ist hilflos. Was zu tun wäre.
Eine Lüge kann viele Formen annehmen. Raymond Serrato hat sie auf seinem Laptop in 483 Zeilen einer Tabelle eingetragen – Videoclips aus ganz verschiedenen Quellen, die alle die gleiche Botschaft verbreiten: Europas Regierungen wollen ihre Grenzen für Migranten öffnen.
An einem hellen Märzmorgen sitzt der junge amerikanische Datenanalyst in einem Berliner Café an einem langen Holztisch. Mit dem Mauszeiger fährt er über die Liste, und was er sieht, macht ihn wütend. „Ich hätte nicht gedacht, dass es so schlimm ist“, gesteht er.
Seit Jahren analysiert Serrato die Datenspuren von politischer Desinformation im Netz, zumeist aus den Teilen der Welt, wo Krieg und Vertreibung stets mit psychologischer Kriegsführung in den Medien einhergehen. Zuletzt engagierte ihn der UN-Hochkommissar für Menschenrechte wegen der Vertreibungskampagne gegen die Rohingya in Myanmar.
Im vergangenen Herbst stieß er dann auf eine ebenfalls mächtige Desinformationswelle, die ihren Ursprung nicht in einem Krisengebiet, sondern in Deutschland hatte und sich über ganz Europa ausbreitete. An deren Ende sollte sogar eine europäische Regierung zerbrechen und ein internationales Abkommen beinahe scheitern.
Diese Kampagne – die internationale Kampagne gegen den Migrationspakt – war womöglich eine letzte Warnung. Denn über eines sind sich Serrato und viele weitere Experten seines Fachs heute, sechs Wochen vor der Europawahl, einig: In den kommenden Wochen werden Europas neue Nationalisten und Einwanderungsgegner im großen Stil versuchen, über das Internet und die sozialen Medien die politische Stimmung zu polarisieren und die Wähler zu beeinflussen.
Europa ist nicht ausreichend vorbereitet
Das Journalistenteam „Investigate Europe“ hat mit mehr als 100 Experten, Wissenschaftlern, Politikern und Mitarbeitern der Social-Media-Plattformen gesprochen, um herauszufinden, wie die Desinformationsmaschine funktioniert, wer sie steuert, wem sie nutzt und wie Behörden und Unternehmen darauf reagieren. Das Ergebnis: Europa ist nicht ausreichend vorbereitet, um die Desinformationsmaschine zu stoppen.
Diese Recherche zeigt,
– mit welchen Methoden die Neue Rechte arbeitet, um Desinformationen zu verbreiten,
– dass die Marketing-Mechanismen der Social-Media-Plattformen den Neuen Rechten ideale Bedingungen bieten,
– dass eine eigens geschaffene Stelle der EU, die über Desinformation aufklären soll, mit Legitimitäts- und Zuständigkeitsproblemen kämpft,
– dass die nationalen Regierungen sowie die EU-Kommission den Unternehmen die Kontrolle übertragen, nämlich Google, Facebook und Twitter, die allerdings an den Kampagnen verdienen,
– dass Transparenzstandards für Wahlwerbung im Netz nicht ausreichen und darüber hinaus bislang nur teilweise umgesetzt werden.
Wie die Desinformationsmaschine funktioniert, erklärt Serrato anhand der Kampagne, deren elektronische Spur er vor sechs Monaten aufnahm: die europaweite Panikmache gegen den UN-Migrationspakt. Mit dem Abkommen verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten – in rechtlich unverbindlicher Form –, Migranten vor Verfolgung und Diskriminierung zu schützen, sie zu informieren und ihre Rechte zu garantieren. Sie verpflichten sich außerdem auf die Bekämpfung von Fluchtursachen und zur Zusammenarbeit, um illegale Migration zu bekämpfen.
Rechte Einwanderungsgegner aber machten aus dem UN-Vertrag ein „Todesurteil gegen den Nationalstaat“. Diese Botschaft brachten sie auf zunächst kaum erkannten elektronischen Pfaden in die Haushalte von Millionen – und das mit politischem Erfolg.
Start im Büro des Bundestagsabgeordneten Hebner
All das begann im Frühjahr 2018 im Büro des AfD-Bundestagsabgeordneten Martin Hebner. Einer seiner Mitarbeiter findet in einer Datenbank des Bundestages ein Schriftstück über den UN-Migrationspakt. Seit Anfang 2017 hatten Politiker, Diplomaten und Experten daran gearbeitet, um einen Kooperationsrahmen für den Umgang mit Migranten zu schaffen.
Hebners Mitarbeiter schreibt im April 2018 in der „Jungen Freiheit“, das Abkommen drohe ein „Signal für eine nie da gewesene Völkerwanderung“ zu werden. Er fragt rhetorisch: „Wer hat unsere Regierung dazu ermächtigt? Wann wurde das Thema im Bundestag debattiert, in der Öffentlichkeit darüber berichtet?“
Zwei Wochen später wiederholt Hebner im Bundestag die Formel vom „Signal für eine nie da gewesene Völkerwanderung“ und behauptet: „Es geht um eine geplante Umsiedlung, zu der sich Deutschland verpflichtet hat – am deutschen Parlament vorbei.“ In den folgenden Wochen nimmt Hebner Kontakt zu anderen Nationalisten in Europa auf, um diese Sicht zu verbreiten. Doch das Thema zündet zunächst nicht.
Googles Tochterfirma Youtube hilft kräftig nach
Das ändert sich schlagartig am 16. September. Der österreichische Rechtsextremist Martin Sellner lädt an diesem Tag ein Video auf Youtube hoch. „UN-Migrationspakt stoppen – nicht in unserem Namen“, lautet der Titel. „Es ist der letzte und finale Schlag. Es ist das Todesurteil gegen den Nationalstaat, seine Souveränität und damit die Demokratie“, heißt es in dem Clip. Binnen weniger Wochen erreicht Sellner so mehr als 100.000 Menschen. Darunter auch viele, die nie vorhatten, das Video zu schauen.
Aber Googles Tochterfirma Youtube hilft kräftig nach. Denn der eingebaute Algorithmus empfiehlt häufig gerade solche Videoclips, die besonders provokant oder sensationell betitelt sind. Wer mit einem harmlosen Clip einsteigt, kann schnell bei extremen Inhalten landen. Das beobachtete die US-amerikanische Soziologin Zeynep Tufekci. Sie nennt Youtube deshalb „den großen Radikalisierer“.
Diesen Mechanismus können sogar einzelne Akteure systematisch ausnutzen, sagt der britische Politikwissenschaftler Paul Butcher, der zuletzt ein Papier über die „Heimatfront des neuen Informationskrieges“ veröffentlichte. „Diese extremistischen Aktivisten sind die größte Gefahr, der wir bei Online-Kampagnen ausgesetzt sind.“
Akteure wie Sellner wollen vor allem Unsicherheit stiften
Wie sich das fortpflanzt, misst Serrato in den Wochen nach Sellners Aufschlag. Dabei stößt er auf immer mehr Videos, die Sellners Argumentation folgen und ihrerseits wieder hunderttausendfach gesehen werden.
Das Perfide an dieser Methode ist, dass es gar nicht darum geht, mit Fakten eine Wahrheit zu belegen und damit zu überzeugen. Vielmehr wollen Akteure wie Sellner vor allem Unsicherheit stiften, indem sie vermeintliche Wahrheiten einfach nur behaupten. Das gefährliche Produkt der Desinformationsmaschine ist der massenhafte Zweifel. Wer die Videos sieht, fragt sich zwangsläufig, ob es eine gute Idee ist, dem Migrationspakt vorbehaltlos zuzustimmen.
Um gegen das Abkommen zu mobilisieren, nutzt Sellner in dieser Zeit auch die Messengerdienste Discord und Telegram. In der Chatgruppe „Migrationspakt stoppen“ schreibt er: „Bitte verbreitet das Video massiv“. Sellner bittet in der Gruppe um Spenden, bietet Poster an und wirbt für eine Petition. Das Ziel ist: Wer an dem Abkommen zweifelt, unterschreibt, um zu verhindern, dass es kommt.
Neben dem nationalistisch regierten Ungarn fällt die Regierung Österreichs als erste um, weil sie auf die Stimmen vom rechten Rand baut. Ende Oktober verkündet Kanzler Sebastian Kurz, sein Land werde das Abkommen nicht unterzeichnen, und Sellner triumphiert: „Wir haben es geschafft! Gratuliere an die aktivistische Elite hier.“
Auch kritische Medien wirken wie ein Verstärker
Was in den folgenden Tagen geschah, haben Analysten der Londoner Denkfabrik „Institute for Strategic Dialogue“ ausgewertet: Auf Twitter stieg die Zahl der Nachrichten, die über den Migrationspakt geschrieben wurden um 700 Prozent. Ab diesem Zeitpunkt beginnen Tageszeitungen und andere große Medien – darunter auch der Tagesspiegel – über das Abkommen zu berichten.
Aus Sicht der US-Soziologin Whitney Phillips machen sich große Medien damit zum Teil der Desinformationskampagne, selbst wenn sie, wie der Tagesspiegel, die Fakten checken, kritisch über die Behauptungen berichten und die Botschaft der Desinformationskampagne brechen. Ihre Berichterstattung wirke dennoch wie ein Verstärker.
„Ihr seid nicht nur die Lösung, ihr seid auch Teil des Problems“, hält Phillips im Februar in Hamburg Journalisten vor, die sich zu einer Konferenz der Rudolf-Augstein-Stiftung in der Lobby des Spiegel-Verlags versammelt haben. „Desinformation erhält seinen größten und nachhaltigsten Schub durch die Berichterstattung der Mainstream-Medien“, warnt sie.
Im November vergangenen Jahres berichteten mehr und mehr Medien über den Migrationspakt. Viele Journalisten schrieben nicht, wer ursprünglich den Zweifel säte und die Lügen über das Abkommen verbreitete. Die Nationalisten wurden teilweise als „Kritiker“ bezeichnet, das Abkommen wurde zum „umstrittenen Migrationspakt“.
Nationalisten demonstrieren Europas neues Paradox
Ab November rollt die Welle durch den ganzen Kontinent und die Nationalisten demonstrieren Europas neues Paradox: Sie handeln europäisch so geeint, wie es den Regierungen der EU schon lange nicht mehr gelingt. In Norwegen verbreiten Aktivisten eine Petition, die sich wie jene Sellners liest. In Dänemark marschieren Mitglieder der rechtsextremen Identitären Bewegung gegen den UN-Pakt durch Kopenhagen. In den Niederlanden erklärt der Europaabgeordnete Marcel de Graaff kurzerhand, „die Kritik an Migration wird ein Verbrechen“. Medien, die kritisch über Migration berichten, könnten angeblich verboten werden, sobald das Abkommen gilt.
Binnen weniger Monate entwickelt auf diesem Weg eine einzige gezielt falsche Botschaft eine ungeheure Dynamik. Nach dem Brexit-Votum und der Trump-Wahl im Jahr 2016 hat damit erstmals eine Desinformationskampagne der Rechten auch in Kontinentaleuropa praktische politische Konsequenzen. Einen Tag vor der Abstimmung über das Abkommen zerbricht die belgische Regierung am Streit über die ursprünglich geplante Unterzeichnung. Und insgesamt 30 Staaten wenden sich gegen den Pakt, den sie zuvor selbst mit ausgehandelt haben.
Europas Regierende geraten in Alarmstimmung
Zeitgleich mit dieser Desinformationskampagne feiern rechte Kräfte in Europa auch andere Erfolge: In Polen und Norwegen mobilisiert eine „Allianz für Familienwerte“ gegen Frauenrechte. In Frankreich unterwandern Rechtsextreme die Gelbwesten-Bewegung mit rassistischen Parolen. In Spanien hat die rechtsextreme Kleinstpartei Vox überraschend Erfolg bei der Wahl in Andalusien.
Europas Regierende geraten in Alarmstimmung. „Im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament werden gezielte Desinformationskampagnen voraussichtlich zunehmen“, warnte die Kommission in einem eilig verfassten Aktionsplan. „Es müssen daher dringend unmittelbar wirkende Maßnahmen getroffen werden, die die Union und ihre Bürger vor Desinformationen schützen“, fordern die Kommissare.
Aber mit welchen Instrumenten soll das geschehen? Wer soll entscheiden, was Lüge und was Wahrheit ist? Und wer könnte Verbote durchsetzen, ohne eine undemokratische Zensur auszuüben? Die Antworten offenbaren, dass die Institutionen der Demokratie dem bisher nicht gewachsen sind.
EU fokussiert auf russische Kampagnen
Die Europäische Union fokussierte sich bislang vor allem auf russische Desinformation. Im März 2015, knapp ein Jahr nach der Maidan-Revolution in der Ukraine, betonten die Staats- und Regierungschefs nach einem Gipfeltreffen „die Notwendigkeit, Russlands laufenden Desinformationskampagnen entgegenzuwirken“.
Innerhalb weniger Monate entstand im Europäischen Auswärtigen Dienst eine neue Einheit, die East StratCom. Sie soll vom Ausland gestreute Desinformationen dokumentieren, um zumindest Beweise zu sammeln. Doch das Team war mit sechs Mitarbeitern schwach besetzt. Keiner davon ist ein Datenanalyst. Was sie finden, melden sie im „Disinformation Review“ ihrer Website. Ihre Datenbank, „EU vs Disinfo“, enthält bisher rund 5200 Fälle.
Bis heute grenzen die Mitgliedsstaaten den Bereich, in dem die EU-Beamten agieren dürfen, stark ein. Sie dürfen ausschließlich Medien kritisieren, die von außerhalb der EU gesteuert werden. Das zeigt der Fall der Nennung von drei niederländischen Zeitungen im East-StratCom-Archiv, als diese unkommentiert die Behauptung russischer Waffenhersteller berichtet hatten, wonach der Abschuss des malaysischen Passagierflugzeugs über der Ukraine mit zahlreichen holländischen Opfern an Bord nicht mit russischen Waffen erfolgt sei.
Europas Anti-Desinformations-Einheit ist klein
Daraufhin forderte das niederländische Parlament, die EU-Einheit abzuschaffen, weil sie die Pressefreiheit bedrohe. So weit kam es nicht, aber seitdem gilt für die StratCom-Beamten: Europäische Medien sind tabu. „Wir haben ein Legitimitätsproblem“, gibt ein Mitarbeiter zu. Das heißt: Gefährliche Kampagnen wie jene zum UN-Migrationspakt werden bis heute gar nicht erfasst.
Gleichwohl stockten die EU-Regierungen Anfang des Jahres den Etat der East StratCom auf fünf Millionen Euro auf. Davon sollen externe Datenanalysten bezahlt und das Team vergrößert werden. Europas einzige Anti-Desinformations-Einheit wird aber auch dann nur 16 Mitarbeiter haben. Wie sollen diese wenigen die Desinformationsmaschine lahmlegen? Gar nicht, sagt ein verantwortlicher leitender EU-Beamter. Es solle nur Bewusstsein geschaffen werden. „Wir können nur versuchen, den nationalen Regierungen einen Impuls zu geben. Die Mitgliedsstaaten müssen Desinformation ernst nehmen. Denn dieses Problem wird nicht in Brüssel gelöst.“
Auch hier behindert Ungarns Premier Orban
Darum sollen Vertreter der Mitgliedsstaaten nun gemeinsam gegen Desinformation vorgehen. Jede Regierung soll ihre Beobachtungen in ein schnelles Alarmsystem einspeisen, um alle anderen im Krisenfall an der Informationsfront zu warnen. Mitte März, knapp zwei Monate vor der Europawahl, wurde das Alarmsystem in einem Brüsseler Konferenzraum eingeweiht. Zur Feier hatte jeder Mitgliedsstaat seine verantwortliche Kontaktperson entsandt.
Pro Land haben nur wenige Personen Zugang zu der Plattform, in Deutschland sind es drei. Melden diese einen Fall, vibrieren die Smartphones der Kollegen in den übrigen EU-Staaten. So sollen die Regierungen der Mitgliedsstaaten schnell reagieren. Doch auch die Arbeit dieser Kontaktpersonen geht am Kernproblem vorbei. Wie die EU-Beamten der East StratCom dürfen sie nur Fälle melden, die von Nicht-EU- Akteuren stammen.
Grund dafür sei auch die Angst vor Störfeuer aus Staaten wie Ungarn, sagt ein deutscher Beamter, der mit den Vorgängen vertraut ist. Denn in Budapest operiert Regierungschef Viktor Orban selbst mit erfundenen Nachrichten, wie etwa dass die EU-Kommission „illegale Einwanderung fördern“ wolle.
Vertreter anderer EU-Staaten fürchten deshalb, dass die ungarische Kontaktperson das Alarmsystem missbrauchen könnte, um angebliche Desinformationskampagnen anderer Mitgliedsstaaten zu melden und so zu provozieren. Jenseits der Aufdeckung von möglicher Einflussnahme aus dem Ausland geschieht jedoch wenig. Denn keine Regierung, und schon gar nicht die deutsche, will ein „Wahrheitsministerium“ einrichten, heißt es im Innenministerium.
Google, Facebook und Twitter sollen es richten
Stattdessen verlegen sich Kommissare und Minister auf einen scheinbar leichten Ausweg: Die Digitalkonzerne Google/Youtube, Facebook und Twitter sollen es richten. Schließlich verdienen sie gut an dem Propagandakrieg auf ihren Plattformen. Je mehr Menschen damit ihre Zeit verbringen, umso mehr Anzeigen können sie verkaufen.
Aber lange wollten sie keine Verantwortung für die Inhalte übernehmen, die über ihre Systeme verbreitet werden. „Wir sind eine Technologiefirma, kein Medienunternehmen“, erklärte etwa Mark Zuckerberg lange Zeit die Rolle seines Konzerns. „Wir bauen nur die Werkzeuge, wir produzieren keine Inhalte.“
Doch diese Neutralität will die EU-Kommission nicht länger gelten lassen. Darum drängt sie die Konzerne im September 2018 zur Unterzeichnung eines freiwilligen Code of Practice. Darin verpflichten sich die Betreiber, die Auftraggeber ihrer Werbung zu nennen und gegen Fake Accounts, also falsche Identitäten auf ihren Webseiten, vorzugehen. Sie sollen Wissenschaftlern ermöglichen, Desinformationen auf den Plattformen zu untersuchen.
Außerdem willigen die Manager von Facebook, Google und Twitter ein, monatliche Berichte an die EU-Kommissare zu übermitteln. „Es ist das erste Mal weltweit, dass die Unternehmen freiwillig selbstregulierenden Maßnahmen zugestimmt haben, um Desinformation zu bekämpfen“, verkündet die Kommission anschließend euphorisch.
Doch ein halbes Jahr später, Mitte März, ist von der Freude nichts geblieben. Julian King, der britische Kommissar für Sicherheit, sitzt an einem langen Tisch vor Fenstern, an denen großformatige Fotos der Queen lehnen. Mitten im Brexit-Chaos weiß er nicht, wie lange er noch in Brüssel arbeiten wird.
Große Probleme auch mit Fake Accounts
Doch ihn sorgt etwas anderes noch mehr. Mit tiefen Falten auf der Stirn sagt er: „Wir haben ein Problem, wenn es um politische Werbung geht. Die Plattformen haben versprochen, etwas zu unternehmen, doch bis jetzt ist nichts geschehen und wir wissen nicht, wie lange es dauert, bis die Systeme in ganz Europa funktionieren.“
Auch wenn es um Fake Accounts gehe, gebe es Probleme, sowie beim ungehinderten Datenzugang für Wissenschaftler, sagt King und demonstriert unfreiwillig die Schwäche des gefeierten Verhaltenskodex. Es gibt keine Sanktionsmaßnahmen gegen Verstöße. So kann King nur beteuern: „Wir üben Druck auf die Plattformen aus und hoffen, dass sie handeln.“ Das aber teilt den Konzernen eine Rolle zu, die noch größere Probleme schafft.
Jahrzehntelang waren Journalisten die Türsteher für den Zugang zu Informationen. Sie recherchierten und entschieden, welche Information gedruckt oder gesendet wurden – und welche nicht. Diese Aufgaben kann heute in der digitalen Gesellschaft jeder übernehmen, der über Smartphone oder Computer verfügt, und Facebook, Google/Youtube oder Twitter ermöglichen die massenhafte Verbreitung.
Mehr als die Hälfte der Europäer bezieht Nachrichten vor allem von den Plattformen. Deren Algorithmen entscheiden, was zuerst gezeigt wird, und folgen dabei bisher allein einer kommerziellen Logik, um sie mit gezielter Werbung zu verbinden.
Google beschränkt mehrere rechtsradikale Nutzer
Aber sollen diese Plattformen auch entscheiden, was wahr ist und was nicht? Käme es dazu, dann wird Zensur privatisiert. Erste Fälle gibt es schon. Anfang März beschränkte Google etwa die Accounts mehrerer rechtsradikaler Nutzer – darunter den von Sellner, der die Kampagne gegen den Migrationspakt zündete. Seitdem kann er keine Anzeigen mehr vor seine Videos schalten und somit kein Geld verdienen.
Das gilt auch für den russischen Staatssender RT. „Facebook und Google löschen nach eigenen Regeln, weil sie sich allein als private Unternehmen begreifen und eine Art digitales Hausrecht durchsetzen wollen“, warnt der Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen, Christian Mihr. „Ihre Plattformen sind jedoch ein Teil der modernen Öffentlichkeit geworden, sodass Menschen dort alles sagen können müssen, was nicht gegen Gesetze verstößt.“
Bei Google gilt das nicht als großes Problem. Mitten in London befinden sich die Konzernbüros in einem Häuserblock, der dem Besucher keinen Zweifel daran lässt, wie potent das Unternehmen ist. Die gesamte Fassade ist in den Farben des Firmenlogos gestrichen. Im neunten Stock arbeitet Google-Manager Jon Steinberg.
Anzeigen sind ein Einfallstor für Desinformation
Wie Facebook auch verdient Google sehr viel Geld damit, dass Menschen für Werbung zahlen, unter anderem für die kurzen Spots, die vor vielen Youtube-Videos eingeblendet sind. Doch diese Anzeigen sind ein Einfallstor für Desinformation und Einflussnahme, wie sich vor allem bei der Brexit-Kampagne zeigte, während derer die EU-Gegner den größten Teil ihres Budgets für solche „dark ads“ ausgaben, die nur solchen Nutzern gezeigt wurden, die zuvor anhand ihres Verhalten im Netz als beeinflussbar eingeschätzt wurden.
Wer für die Werbung zahlt, erfährt der Nutzer aber bisher meistens nicht. In dem Verhaltenskodex, den Google mit der EU vereinbart hat, hat sich Steinbergs Unternehmen nun zwar verpflichtet, das für politische Werbung zu ändern. Das gilt allerdings nur für Spots und Anzeigen, die einen Kandidaten oder eine Partei bewerben. Desinformation mit dem gleichen Ziel fällt nicht darunter.
Im Europawahlkampf hatten zudem viele Parteien ihre Kampagnen bereits ausgerollt, bevor Google das Kennzeichnungssystem startete. Auch Facebook verspricht neuerdings, „alle politischen Werbeanzeigen so zu kennzeichnen, dass du weißt, wer dafür bezahlt hat“. Zunächst fehlte aber die SPD in Facebooks Datenbank – das Problem ist mittlerweile behoben.
Auch Google gibt Wissenschaftlern kaum Einblick
Doch selbst wenn alles funktioniert, bleibt vieles ungelöst. Nachdem vergangenes Jahr bekannt wurde, dass die Analysefirma Cambridge Analytica massenhaft Facebook-Daten nutzte, um im Vorfeld des Brexit-Votums Wähler zu beeinflussen, schloss der Konzern eine Schnittstelle, die es Wissenschaftlern erlaubte, zu analysieren, was auf der Plattform geschieht.
Seitdem wurde Facebook zur Dunkelkammer. Zwar hat der Konzern kürzlich die Schnittstelle wieder geöffnet, doch erlaube die zu wenig Einsicht, kritisieren Forscher. Auch ansonsten gibt der Konzern Wissenschaftlern kaum Einblick, warum einem Nutzer was angezeigt wird.
Auch Google weigert sich, Forscher oder Behörden die Algorithmen prüfen zu lassen, die etwa im Verdacht stehen, Nutzern extreme Videos wie jenes Sellners zu zeigen. Dazu gibt Google-Manager Steinberg nur eine lauwarme Erklärung. „Wir müssen ein Gleichgewicht schaffen dazwischen, Transparenz herzustellen und zu verhindern, das schlechte Akteure unser System missbrauchen.“
Gesetz gegen „unplausible Nachrichten“ in Frankreich
Die französische Regierung will sich auf solche Leerformeln nicht mehr verlassen und erließ darum im vergangenen Dezember ein Gesetz. Das stellt kurzerhand die Verbreitung von „unplausiblen Nachrichten“ in den drei Monaten vor einer Wahl unter Strafe.
Aber wie das praktiziert werden soll, ist trotz des angelaufenen Wahlkampfs bisher nicht geklärt. Es macht zwar, anders als in der übrigen EU, die Transparenzversprechen der Konzerne zur gesetzlichen Pflicht. Die mögliche Klage gegen vermeintlich falsche Nachrichten ist jedoch stark umstritten.
Der Senat und zahlreiche Organisationen warnten vor einer Staatszensur, die sich schnell gegen jeden richten könne, etwa nach einem Regierungswechsel. Würde der rechtsextreme Rassemblement National regieren, könnte schnell jede Kritik als „unplausible Nachricht“ verboten werden.
Zwischen derlei Aktionismus und dem vielerorts vorherrschenden Stillstand bleibt eine enorme Unsicherheit: Wie groß das Problem der Desinformation ist, kann niemand verlässlich sagen. „Wir wissen so wenig darüber“, mahnt die US-Politikwissenschaftlerin Rebekah Tromble, und das trotz einer Vielzahl von erschienenen Studien. „Wir wissen nicht, wie viele Menschen tatsächlich in Kontakt mit Falschinformationen kommen, und noch weniger können wir sagen, wie sich das politisch auswirkt“, sagt sie. „Wir wissen nicht, wie viele Menschen durch Desinformation mobilisiert werden und wie viele deshalb ihre Meinung ändern.“
Klar ist jedoch: Das Problem existiert. Darin sind sich die Forscher einig. Und es geht keineswegs nur um bloße Worte, denn diese können schnell zu Waffen werden. Als Mitte März ein Mann im neuseeländischen Christchurch 50 Muslime erschießt, steht auf seiner Maschinenpistole: „Hier ist euer Migrationspakt.“
„Investigate Europe“ ist ein paneuropäisches Journalistenteam, das gemeinsam Themen von europäischer Relevanz recherchiert und die Ergebnisse europaweit veröffentlicht. Spenden der Leser sind ein wichtiger Beitrag, der die Arbeit ermöglicht. Das Projekt wird von der Schöpflin-Stiftung, der Rudolf-Augstein-Stiftung, der Hübner & Kennedy-Stiftung, der norwegischen Fritt-Ord-Stiftung, der Open Society Initiative for Europe, der portugiesischen Gulbenkian Foundation, der italienischen Cariplo-Stiftung und privaten Spendern unterstützt. Zu den Medienpartnern für die Recherche zu Desinformation gehören neben dem Tagesspiegel unter anderem „Diário de Noticias“, „Aftenbladet“, „De Groene Amsterdammer“, „Le Monde“ und „El País“. Außer den Autoren haben Wojciech Ciesla, Daphné Dupont-Nivet (Investico), Ingeborg Eliassen, Juliet Ferguson, Nikolas Leontopoulos, Maria Maggiore, Leila Minano und Paulo Pena beigetragen. Mehr zum Projekt unter: www.investigate-europe.eu