Corona in Israel: Wie Ultraorthodoxe die Krise verschärfen
In Israel leben die Strengreligiösen nach eigenen Regeln, die des Staates kümmern sie wenig - die Infektionsrate unter ihnen ist besonders hoch.
Inmitten all der beängstigenden Prognosen rund um das Coronavirus hatten israelische Gesundheitsexperten am Dienstag eine gute Nachricht zu verkünden. Die Geschwindigkeit, mit der die Zahl der Neuinfizierten steigt, ist leicht gesunken.
Es gibt jedoch eine erschreckende Ausnahme: Unter den Ultraorthodoxen, die elf Prozent der Bevölkerung ausmachen, schießen die Fallzahlen in die Höhe. In Bnei Brak, einem ultraorthodoxen Vorort Tel Avivs, ist jede dritte getestete Person an Corona erkrankt; auch andere strengreligiös geprägte Orte verzeichnen überproportional viele Infizierte.
„Den bisher registrierten Fällen nach zu urteilen, ist die Infektionsrate in ultraorthodoxen Gemeinden vier bis acht Mal so hoch wie in anderen Teilen Israels“, sagt Moti Ravid, medizinischer Direktor der Mayanei-Hayeshua-Klinik in Bnei Brak. Laut einem Fernsehbericht machen Ultraorthodoxe, in Israel auch Haredim genannt, die Hälfte aller stationär behandelten Coronapatienten aus.
Einer der Gründe dafür ließ sich vergangenen Sonntag in Bnei Brak besichtigen: Im Zentrum der Stadt schlossen sich an die 400 Menschen einer Prozession zu Ehren eines verstorbenen Rabbiners an, obwohl die Regierung nur 20 Personen auf Beerdigungen erlaubt.
Für viele Strengreligiöse zählt weltliche Autorität wenig
In der Öffentlichkeit lösten die Bilder hitzige Debatten aus über eine Minderheit, für die – nicht nur in der Coronakrise – oft andere Regeln zu gelten scheinen als für die Mehrheitsgesellschaft.
„Die ultraorthodoxen Gemeinden haben die Beschränkungen des Gesundheitsministeriums mindestens zwei Wochen später umgesetzt als die allgemeine Bevölkerung“, sagt Moti Ravid.
Ultraorthodoxe Rabbiner, deren Wort in ihrer jeweiligen Gemeinde mehr wiegt als das jeder weltlichen Autorität, tragen einen großen Teil der Verantwortung. Manche hatten sich wochenlang der staatlichen Anweisung widersetzt, Synagogen und religiöse Schulen zu schließen; einer von ihnen ließ gar verlauten, eine Unterbrechung des Torah-Studiums sei gefährlicher als das Virus.
Polizisten mit Steinen beworfen
Inzwischen folgen die meisten den Richtlinien. Eine kleine, radikale Minderheit jedoch, bekannt als „Jerusalem-Fraktion“, widersetzt sich weiterhin. Als Polizisten vergangenes Wochenende die Ausgangssperren in einem ultraorthodoxen Viertel in Jerusalem durchsetzen wollten, wurden sie von Anhängern der Fraktion mit Steinen beworfen.
Doch selbst wenn die Ausgangs- und Kontaktsperren in ultraorthodoxen Städten strikter befolgt würden, ließe sich das Virus dort schwerer eindämmen als anderswo. Die durchschnittliche Fruchtbarkeitsrate der Haredim liegt bei sieben Kindern pro Frau, viele Familien leben in Armut.
Dass zehn, zwölf Menschen sich eine enge Zwei-Zimmer-Wohnung teilen, ist keine Seltenheit. „Wenn sich einer infiziert, infiziert sich ein großer Teil der übrigen Familie“, so Mediziner Moti Ravid.
Mediziner fordert eingeschränkte Bewegungsmöglichkeiten
Die Regierung denkt darüber nach, wie sich die stark betroffenen strengreligiösen Gemeinden abschotten ließen, um wenigstens die Zahl der Neuinfizierten im übrigen Land zu begrenzen. Ravid hält harte Maßnahmen für unumgänglich.
„Man muss die Bewegung der Menschen in diesen Gebieten einschränken“, sagt er. „Die jüngsten Erfahrungen haben gezeigt, dass Schritte, die auf Freiwilligkeit beruhen, nicht reichen. Ich denke, die Zeit wird kommen, da die Regierung die Polizei aussenden muss.“
Mareike Enghusen