Netflix-Serie: Die Geschichte der Deborah Feldman: „Ich bin normal. Aber anders“
Wie es ist, als junge Frau in einer orthodox-jüdischen Gemeinde aufzuwachsen: Die Netflix-Serie „Unorthodox“.
Die jüdische Geschichte ist voller toter Seelen. Die Gespenster der Vergangenheit haben sich im kollektiven Gedächtnis eingenistet, sie behausen die unbewohnten und vergessenen Orte. Wie den Kinderspielplatz im Berliner Stadtteil Schöneberg, den eine Tragödie mit einer Bäckerei im jüdischen Viertel von Williamsburg verbindet.
In dem Wohnhaus, das hier 1932 stand, wurde der alte Auerbach geboren, der heute in Brooklyn eine koschere Bäckerei betreibt. Er hat als einziger in seiner Familie den Holocaust überlebt. „Willst du unter all den Toten dein Kind großziehen?“ fragt Moishe Esther, als sie auf dem Spielplatz stehen. „Die Toten sind sowieso unter uns“, entgegnet die junge Frau, „egal wo wir leben.“ Ihre Mutter ist vor Jahren freiwillig in das Land zurückgekehrt, das ihr Volk auf dem Gewissen hat.
Die Frage, welches Leben die nächste Generation für sich wählt, lässt sich in der Netflix-Miniserie „Unorthodox“ nicht mehr aus der Geschichte heraus beantworten. Die schwangere Esty, gespielt vom israelischen Nachwuchsstar Shira Haas, hat sich allen Verpflichtungen, die eine junge Frau in einer ultraorthodoxen chassidischen Gemeinde erwarten, entrissen.
Sie hat ihren alkoholkranken Vater, ihre Großmutter Babby und ihren Ehemann Yakov, die religiösen Rituale und ihre Demut zurückgelassen und ist nach Berlin geflohen, wo ihre Mutter lebt. Esty, die nicht weiß, wie eine Internetsuchmaschine funktioniert und einmal Lippenstift tragen möchte wie die „Shiksas“ in Brooklyns Straßen, ist immer vor der Außenwelt gewarnt worden. Nur ihr Mann Yakov (Amit Rahav) war vorbereitet. „Du solltest wissen“, meint Esty vor ihrer Hochzeit, „dass ich nicht wie die anderen Mädchen bin. Ich bin normal. Aber anders.“
Auch das vierteilige Drama „Unorthodox“, das auf den Memoiren der in Berlin lebenden Deborah Feldman basiert, ist anders. Es unterscheidet sich von der Serienware, mit der Netflix und andere Produzenten den deutschen Markt seit einer Weile überschwemmen.
Zum Beispiel, indem sich Alexa Karolinski und Anna Winger („Deutschland 83“) viel Zeit für ihre Milieus nehmen. „Unorthodox“ verzichtet auch auf die üblichen Fernsehgesichter. In seinen besseren Momenten genügt sich deutsches Serienfernsehen als routinierte Ableitung etablierter US-Formate („Skylines“, „Dark“). Schlimmstenfalls stellt sich eine vertraute TV-Heimeligkeit ein, die die Sehnsucht nach der Ära des vertikalen Erzählens nicht mal zu kaschieren versucht.
Man sieht, dass Karolinski und Winger Größeres vorschwebt. Nicht nur, weil sie Maria Schrader für die Regie gewinnen konnten, die schon mit der höchst gegenwärtigen Stefan-Zweig-Biografie „Vor der Morgenröte“ ihre Sensibilität für Exilerzählungen bewiesen hatte.
Erste Netflix-Produktion in Yiddish
„Unorthodox“ nimmt Perspektiven ein, die selbst im deutschen Kino noch ungewohnt sind, und einen ganz eigenen Ton treffen. Ihre Serie behandelt „Themen, die unser beider Leben beeinflusst haben“, erzählte die in Berlin geborene Karolinski kürzlich in einem Interview über die Arbeit mit Feldman: „Sie als amerikanische Jüdin in Berlin, mich als deutsche Jüdin, die in den USA lebt.“
Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal ist, dass „Unorthodox“ als erste Netflix-Produktion in Yiddish gedreht wurde; nur gelegentlich fällt ein englischer oder deutscher Satz. Das dürfte der Serie auch international Aufmerksamkeit verschaffen, perfekt also für das Portfoilio des Streamingproduzenten, der zunehmend lokale Inhalte für seine wachsende globale Klientel sammelt.
Mit der 24-jährigen Shira Haas spielt zudem ein kommender israelischer Star die Hauptrolle, in ihrer Heimat wurde Haas mit der Serie „Shtisel“ über eine orthodoxe Familie in Jerusalem (ebenfalls auf Netflix) bekannt. So bringt „Unorthodox“ zwei gegensätzliche Welten zusammen: Die Handlung folgt parallel Estys Flucht aus Williamsburg und ihrer Ankunft in Berlin, wo das schüchterne Mädchen Anschluss an eine Gruppe Musikschülerinnen findet. Denn Esty träumt seit ihrer Kindheit davon, Konzertpianistin zu werden.
„Unorthodox“ erzählt Feldmans reale Emanzipationsgeschichte leicht fiktionalisiert als Flucht („Unorthodox“ auf Netflix, ab 26. März, vier Teile). Yakov, ein Muttersöhnchen, reist seiner Frau hinterher, im Schlepptau hat er seinen volatilen Cousin Moishe (Jeff Wilbusch), der selbst ein paar Probleme mit irdischen Verlockungen hat.
Er ist spielsüchtig, die Berlin-Mission ist seine letzte Bewährungsprobe in der Familie. Auch er fürchtet die Strafe Gottes, doch seine erste Berliner Clubnacht endet mit einem Blackout. Wilbusch ist wie Feldman in einer orthodoxen Gemeinde aufgewachsen, er hat seine Rolle als Gelegenheit bezeichnet, um „mich mit meiner Vergangenheit auseinanderzusetzen“.
Auch wenn „Unorthodox“ stellenweise etwas zu vorhersehbar den Etappen eines Bildungsromans folgt und en passant typische Drehbucheinfälle abarbeitet (Selbstfindung durch klassische Musik, Mutter-Tochter-Beziehung, Berlin-Clubbing, Halbweltgestalten, Estys neue Freunde, zu denen natürlich ein schwuler Nigerianer und die Israelin, die Holocaust-Witze macht, gehören), ist Karolinskis und Wingers Chuzpe erfrischend.
Ihren Einblicken in eine patriarchale, hermetische Religionsgemeinschaft gelingt die Gratwanderung zwischen kritischer Distanz und Respekt vor der chassidischen Tradition. „Unorthodox“ ist darin sehr New York – und liegt gleichzeitig ganz im Berlin-Trend junger Israeli, die ein anderes Deutschland-Bild haben als die Generation der Eltern.
Die Schatten des Antisemitismus, der Naziterror, sie sind immer noch gegenwärtig. Etsy ist mit dieser Konditionierung aufgewachsen, jetzt will sie für sich und ihr Kind eigene Erfahrungen sammeln. „Da drüben“, sagt einer ihrer Freunde beim Baden im Wannsee, „steht die Villa, in der die Nazis die Endlösung beschlossen.“ Etsy schaut zögerlich zum anderen Ufer. Und dann steigt sie ins Wasser, sie vollzieht ihre ganz persönliche Mikwe.
Andreas Busche
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