Nach Haft in der Türkei: Wie Mesale Tolu versucht, wieder im Alltag anzukommen
Nach ihrer mehrmonatigen Haft in einem türkischen Gefängnis ist die deutsche Übersetzerin Mesale Tolu zwar auf freiem Fuß - aber nicht frei.
Der kleine Serkan wimmert im Halbschlaf und umklammert die Hand seiner Mutter, die ihren Arm nicht aus dem Kinderwagen ziehen kann. „Anders kann er nicht schlafen“, sagt Mesale Tolu. „Er hat immer noch Angst, dass wir wieder verschwinden.“ Ihr Ehemann Suat schaukelt den Kinderwagen etwas, damit der Dreijährige sich beruhigt. Keinen Augenblick lassen die Eltern ihn mehr alleine, seit sie aus dem Gefängnis entlassen wurden, Suat vor sechs Wochen und Mesale vor dreieinhalb Wochen. „Wir müssen unsere Familie erstmal wieder aufbauen“, sagt Mesale, die acht Monate im Gefängnis gesessen hat und neun Monate lang durch Gefängnismauern von ihrem Mann getrennt war.
Vorläufig hat sich die Familie Tolu deshalb wieder in der Wohnung im asiatischen Stadtteil Kartal von Istanbul niedergelassen, wo Mesale Tolu bei ihrer Verhaftung am 30. April vergangenen Jahres der damals zweieinhalbjährige Serkan aus den Armen gerissen wurde. Viele Ausflüge unternehmen sie mit Serkan: auf den Spielplatz, auf die Prinzeninseln, zum Fahrradfahren und selbst zum Ponyreiten waren sie mit dem Jungen neulich. Wir dürfen ihn natürlich auch nicht verwöhnen“, sagt Mesale Tolu und lacht. Aber der Nachholbedarf ist groß. „Wir brauchen die Zeit, um uns wiederzufinden.“
Der Alltag in Deutschland fehlt ihr
Viel mehr können die Tolus derzeit ohnehin nicht machen. Arbeiten können sie nicht, weil der Sohn sie nicht aus den Augen lassen will. Und nach Deutschland zurück können sie nicht, weil beide Ausreiseverbot haben, solange ihre Gerichtsverfahren andauern. „Ich bin auf freiem Fuß, aber frei bin ich noch nicht“, sagt Mesale. Ihre Wohnung in Neu-Ulm bleibt deshalb weiter leer; der Kindergartenplatz für Serkan ist weiter reserviert, aber vorläufig unbesetzt. Im März hat Suat den nächsten Gerichtstermin, am 26. April steht Mesale wieder vor Gericht. Beide hoffen, dass die Ausreisesperre aufgehoben wird, wie es in vergleichbaren Fällen für andere Angeklagte der Fall war. Aber sicher ist in diesen Tagen nichts.
Fest steht für die Übersetzerin, wo ihre Heimat ist und sie leben will, sobald das Ausreiseverbot aufgehoben wird. Einen Herzenswunsch hat ihr bereits ein Freund erfüllt, der aus Deutschland zu Besuch kam und frische Brezen mitbrachte. Aber das Heimweh nach Ulm hat das nicht gelindert. „Dieser Alltag in Deutschland: kurz zum Bäcker und dann Kaffee zur Brezel oder nachmittags Kaffee und Kuchen. Und diese Ruhe in Ulm, die Herzlichkeit, das fehlt mir sehr.“
Welle von Solidarität trug sie durch die Zeit der Haft
Mehr denn je zuvor fühlt sich die 33-Jährige als Ulmerin, seit sie die Welle von Solidarität erlebt hat, die aus ihrer Heimatstadt bis in die türkische Gefängniszelle rollte und sie durch die schweren Tage der Haft getragen hat. Anfangs wusste sie nicht einmal davon, bis das deutsche Konsulat sich nach einigen Wochen den Zugang zu ihr verschaffen konnte und den Kontakt herstellte. Wöchentlich brachten ihr die Konsularbeamten fortan Berichte von den Solidaritätsaktionen in Ulm ins Gefängnis, auch Post erhielt sie dann. Briefe von ihren früheren Lehrern und Mitschülern, von Freunden und von deren Eltern und sogar Postkarten von unbekannten Mitbürgern.
Tief bewegt haben sie die Briefe, Postkarten und Aktionen, sagt Mesale Tolu. „Wenn man in der Fremde eingesperrt ist, in einem anderen Land, dann tut es gut zu wissen, dass die eigene Stadt einen so ins Herz geschlossen hat.“ Besonders stolz habe es sie gemacht, dass das Anna-Essinger-Gymnasium sie als würdige Absolventin des Wertekanons gewürdigt habe, der dort in Erinnerung an die Reformpädagogin gelehrt wird, die jüdische Kinder gegen das „Dritte Reich“ verteidigte.
Wie eine Bestätigung ihrer Identität
Die Türkei habe wohl nicht damit gerechnet, dass Deutschland so stark für seine Bürger mit Migrationshintergrund eintreten werde, sagt Tolu. Da habe sich vielleicht etwas tue, was auch ihr Mut mache. „Dass eine kleine Stadt wie Ulm aufgestanden ist und sich hinter mich gestellt hat, das zeigt, dass sich da etwas geändert hat.“ Dass die deutsche Gesellschaft sich nicht nur mit dem urdeutschen Menschenrechtler Peter Steudtner solidarisiert habe, als der in der Türkei eingesperrt wurde, sondern auch mit dem deutsch-türkischen Journalisten Deniuz Yücel und ihr selbst. „Das bestätigt uns auch“ in der Identität als Deutsche, sagt Tolu. „Wenn man sich so von der Heimat ins Herz geschlossen fühlt, dann weiß man: Ich sehe nicht nur Deutschland als meine Heimat, sondern Deutschland nimmt mich auch an.“
Ihr Mann machte in der Türkei Wahlkampf für die Kurdenpartei HDP
Tolu hat in Ulm das Abitur gemacht und dann in Frankfurt Spanisch und Philosophie studiert, um Lehrerin zu werden, dann vor allem Gefallen an den Sprachen gefunden. Türkisch radebrechte sie als Kind zwar nur, weil sie auf Deutsch erzogen wurde, polierte es aber vor dem Abitur im Selbststudium so gut auf, dass sie – anders als viele Deutschtürken – in der Türkei nicht damit auffällt. Englisch beherrschte sie in der Schule gut, Spanisch kam im Studium dazu, und so entschloss sie sich, als Übersetzerin zu arbeiten.
Eine Gelegenheit ergab sich nach der Heirat in Frankfurt, als ihr Ehemann sich 2014 für ein Jahr freiwillig zum Wahlkampf der Kurdenpartei HDP in der Türkei meldete. Es waren hoffnungsvolle Tage in der Türkei: Die Regierung verhandelte damals mit den Kurden über einen dauerhaften Frieden, die HDP setzte zum Einzug ins Parlament und vielleicht sogar zur Koalition mit der Regierungspartei AKP an. Mesale Tolu fühlte sich auch angesprochen, schließlich ist sie kurdischer Abstammung. Ihre kurdischen Großeltern emigrierten aus dem osttürkischen Maras nach Ulm, ihre Eltern sprachen Kurdisch noch als Muttersprache. „Wenn die Familie seit Jahrzehnten diese Unterdrückung erlebt hat, dann ist einem das schon bewusst, auch wenn man in Deutschland aufwächst“, sagt Mesale Tolu. „Diskriminierung als Türkin erfährt man als Kurdin auch in Deutschland.“
Zerbrochen sei sie an der Haft nicht
Tolu war damals schwanger, pendelte zwischen ihrer Familie in Ulm und ihrem Mann in Istanbul und begann, bei ihren Besuchen in der Türkei für die linke Nachrichtenagentur ETHA zunächst Artikel aus der Weltpresse zu übersetzen und dann Interviews zu führen. Die HDP zog 2015 tatsächlich triumphal ins Parlament ein, doch danach ging es schnell bergab. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan ließ die Wahl annullieren, die politische Gewalt eskalierte.
Mesale Tolu sah es zwar geschehen, fühlte sich aber nicht bedroht. „Ich hätte nie im Leben gedacht, dass ich mal inhaftiert werden kann“, erzählt sie. „Weil ich anders aufgewachsen bin; in einem Land, wo freie Meinungsäußerung der höchste Wert ist – und dann war ich ein einem Land, in dem das auf einmal zum Verbrechen wurde.“ Das habe sie schockiert. Zerbrochen sei sie allerdings nicht daran.
Mehr als 100 Journalisten sind noch in türkischen Gefängnissen inhaftiert
Nun richtet sich ihr Blick nach vorne, auf den nächsten Gerichtstermin und auf den Freispruch, für den sie weiter kämpfen will. „Wenn ich dann zurück bin in Ulm, dann will ich sofort in die Innenstadt und einfach nur dort herumlaufen und an der Donau spazieren gehen.“
Eine Bitte hat sie vorher noch an ihre Landsleute: „Bitte seht weiterhin nicht weg, sondern schaut hin“, sagt sie mit Blick auf die vielen türkischen Journalisten, die weiterhin hinter Gittern sitzen. Weit mehr als 100 sind es. Viele Menschen in Deutschland hätten ihretwegen vielleicht erstmals eine Postkarte in ein türkisches Gefängnis geschickt und ihr so viel Mut gemacht, sagt Mesale Tolu.