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Bundeskanzlerin Angela Merkel und Gesundheitsminister Jens Spahn zu Besuch bei RKI-Präsident Lothar Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts.
© Michael Kappeler/dpa

Impfen „to go“, dafür keine Gratis-Tests mehr?: Wie Merkel den Impfdruck erhöht – und Spahn droht

Im Wettlauf mit der Deltavariante will die Kanzlerin neue Lockdown-Einschränkungen vermeiden – dafür sieht sie aber nur eine einzige Option.

Der Weg zum Robert-Koch-Institut in Berlin-Wedding ist wie ein Weg entlang der Orte dieser Pandemie. Die Charité, wo Christian Drosten den weltweit ersten Test zum Nachweis des neuartigen Corona-virus entwickelt hat. Dann das Bundeswehr-Krankenhaus am Nordhafen, wo sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und andere Spitzenpolitiker den Impfstoff von Astrazeneca impfen ließen, um mit gutem Beispiel voranzugehen.

Es folgt das Erika-Heß-Eisstadion, eines von sechs Berliner Impfzentren, bevor das RKI mit seinem Campus erreicht ist, 1891 als Königlich Preußisches Institut für Infektionskrankheiten gegründet, vom späteren Medizinnobelpreisträger Robert Koch bis 1904 geleitet. Nie war das bundeseigene Institut so gefragt, aber auch selten so unter Druck wie in dieser Pandemie.

Bundeskanzlerin Angela Merkel, RKI-Präsident Lothar Wieler und Gesundheitsminister Jens Spahn, zu dessen Verantwortungsbereich das Institut gehört, wahren bei schönstem Sonnenschein die Abstandsregeln beim Foto vor dem Eingangsportal. Drinnen nimmt Merkel in der ersten Reihe in einem Hörsaal Platz und lauscht einem Vortrag, der ihr ein gemischtes, schwieriges Bild liefert.

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Auch in Deutschland steigen, wenn auch auf niedrigem Niveau, die Infektionszahlen wieder – was die Debatte um eine Impfpflicht befeuert.

Merkel sorgt, dass in allen Ländern, wo die Fallzahlen jetzt wieder weit steiler anziehen, neue Mutationen entstehen könnten. Die Schlüsselfrage: Wie lässt sich verhindern, dass dabei irgendwann Mutationen entstehen, gegen die die Impfstoffe nicht wirken?

Sie erfährt, dass es für ein Beherrschen der Pandemie, eine Herdenimmunität gegen ansteckendere Varianten wie die nun auch in Deutschland dominante Deltavariante, eine Impfquote von 85 Prozent bei den 12- bis 59-Jährigen und 90 Prozent bei den Über-60-Jährigen braucht. Merkel wird später von einem eindrücklichen Vortrag sprechen.

Der Andrang in den Impfzentren ist zuletzt geringer geworden.
Der Andrang in den Impfzentren ist zuletzt geringer geworden.
© dpa

Scheidet Merkel ohne weiteren Lockdown aus dem Amt?

„Dieses Robert-Koch-Institut hat sich als großer Segen erwiesen, nicht nur für Deutschland, sondern für viele in der Welt“, sagt sie bei der anschließenden Pressekonferenz. Auch für die seit 18 Monaten unter Volllast arbeitenden Mitarbeiter gibt es keine Entspannung, und für Merkel geht es nach schwierigen, teils chaotischen Krisenmanagementmonaten auch darum, ob sie aus dem Amt scheidet, ohne das Land noch einmal in einen Lockdown schicken zu müssen. „Das Virus macht keine Pause, es gönnt auch uns keine Pause“, bringt es Wieler auf den Punkt.

Dennoch spricht Merkel von einer „veränderten Lage“. „Das Impfen wirkt.“ Dadurch gebe es weniger Intensivfälle – daher will die Bundesregierung auch die Situation in den Kliniken nun stärker berücksichtigen, sollte es nochmal um Einschränkungen gehen.

„Die Korrelation ist durch das Impfen eine völlig andere geworden“, sagt die Kanzlerin mit Blick auf das Verhältnis von Inzidenzen und Hospitalisierungen.“ Man kann heute mit höheren Inzidenzen leben, ohne dass das Gesundheitssystem überfordert wird, wegen der Impfungen“, betont Merkel. „Die zentrale Frage ist daher: Wie viele Menschen lassen sich impfen?“

Ein eindringlicher Appell der Kanzlerin

Dann nutzt Merkel den Besuch für einen eindringlichen Appell, sie legt ihre handschriftlichen Notizen, die sie sich gemacht hat, zur Seite und nimmt die vorgefertigte Botschaft zur Hand. Sie sage allen, die noch unsicher sind, ob sie sich impfen lassen sollen: „Eine Impfung schützt nicht nur sie, sondern immer auch jemandem, dem Sie nahestehen, der Ihnen wichtig ist, den Sie lieben. Eine Impfung bewahrt nicht nur vor schwerer Krankheit und Schmerzen, sondern auch vor den belastenden Beschränkungen unseres Alltags. Und je mehr geimpft sind, umso freier werden wir wieder sein, umso freier können wir wieder leben.“

Sie könne als Bundeskanzlerin „aus tiefer Überzeugung für eine Impfung werben“. Und sie wirbt für Impfpaten in der Bevölkerung. Manchmal helfe es, wenn der eigene Sohn oder eine Kollegin am Arbeitsplatz ist, die Bedenken gegen eine Impfung ausräumt; wenn im Verein oder in der Gemeinde über das Für und Wider von Impfungen offen diskutiert wird. „Deshalb meine Bitte an alle: Sprechen Sie miteinander, in der Familie, am Arbeitsplatz, im Fußballverein, überall wo Menschen sich kennen und vertrauen – und werben Sie für das Impfen, denn wir brauchen einander.“

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Frankreichs Präsident Emmanuel Macron verkündet in einer TV-Ansprache eine Teil-Impfpflicht.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron verkündet in einer TV-Ansprache eine Teil-Impfpflicht.
© REUTERS

Merkel scheint die TV-Ansprache des französischen Präsidenten Emmanuel Macron verfolgt zu haben. Anders als er will sie aber keine Impfpflicht für das Gesundheitspersonal, wie es auch hierzulande diskutiert wird.

Zudem lockt er mit weniger Einschränkungen für Geimpfte und Genesene. „Wir haben nicht die Absicht, den Weg zu gehen, den Frankreich eingeschlagen hat“, sagt Merkel. Es werde keine Impfpflicht geben. Auch nicht für Lehrer, um die Schulöffnungen nach den Ferien besser abzusichern.

In Frankreich wirkt der Druck aber scheinbar: Innerhalb weniger Stunden nach Macrons Rede am Montagabend um 20 Uhr wurden in Frankreich 926.000 neue Impftermine online vereinbart, wie das Buchungsportal Doctolib mitteilte.

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Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einem Vortrag von RKI-Präsident Lothar Wieler zur Corona-Lage.
Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einem Vortrag von RKI-Präsident Lothar Wieler zur Corona-Lage.
© dpa

Merkel setzt vorerst auf das Werben – und lobt explizit Angebote wie Impfungen bei Ikea in Berlin-Lichtenberg oder an Moscheen. „Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt.“

Spahn spricht vom „Impfen to go“ – am Marktplatz, auf dem Fußballplatz, an der Kirche. „Es gibt keine Ausreden mehr: Es ist genug Impfstoff da, Termine sind leicht zu bekommen.“ Wieler betont: „Es muss uns gelingen, die Impfung zu den Menschen zu bringen.“

In den Ländern wird das genauso gesehen. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) will „niederschwellige Angebote“ vor allem für die 16- bis 30-Jährigen. Er schlägt Impfaktionen in Fast-Food-Restaurants, in Wirtshäusern, auf Wochenmärkten, in Einkaufs-Malls oder in Jugendzentren vor. Gespräche mit Fast-Food-Ketten, Sportverbänden und Jugendorganisationen würden bereits geführt. Wie in anderen Ländern solle es künftig auch in Bayern „Drive-in“-Impfen geben.

Denn alle wissen: Die Zeit drängt. Man sei von den Zielquoten noch weit entfernt, räumt Merkel ein, immerhin sei man bei 84 Prozent an Erstimpfungen bei den Über-60-Jährigen, man müsse aber auch gerade die Kinder unter 12 und die, die aus anderen Gründen ebenfalls nicht geimpft werden können, schützen. Bundesweit wurden bisher 58,7 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal geimpft, 43 Prozent haben den vollen Impfschutz.

Spahn zeigt die „Instrumente“, um den Impfdruck zu erhöhen

Spahn macht deutlicher als Merkel, dass es zwar keine Impflicht gibt, aber „ein Impfgebot“. Bis Ende des Sommers könnten nicht nur alle, die wollen, ein Angebot bekommen haben, sondern auch bereits zwei Mal geimpft sein. Dann könnten die mit Steuergeld finanzierten, kostenlosen Schnelltests für diejenigen fallen, die sich nicht impfen lassen, aber mal eben ein Bier in der Kneipe trinken wollen.

Frankreich geht bereits diesen Weg, wo es keine kostenlosen PCR-Tests mehr gibt, die aber auch hierzulande je nach Bundesland oft nicht kostenlos sind. „In einer späteren Phase der Pandemie (…) kann man darüber sicher nachdenken“, sagt Spahn zum Ende der kostenlosen Schnelltests.

Und es könnte versucht werden, mit einer Aufhebung der meisten Einschränkungen für Geimpfte den Impfdruck weiter zu erhöhen. Das wäre der zweite Hebel. Söder erwägt zum Beispiel, im Herbst die Clubs und Discos in Bayern zu öffnen – womöglich nur für voll Geimpfte und Genesene, um mehr junge Menschen für Impfungen zu gewinnen.

Merkel ist sich bewusst, dass solche Projekte wie eine indirekte Impfpflicht wirken können – aber die Lage könnte schon bald wieder eine andere sein – wenn das Impftempo ins Stocken gerät. Spahn zitiert daher am Ende sogar US-Präsident Joe Biden, der gesagt habe, das Impfen sei eine patriotische Pflicht. „Damit hat er Recht.“ Und er betont: „Wer sich heute nicht impfen lässt, darf sich nicht beschweren, wenn er morgen nicht zur Party eingeladen wird.“

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