Trotz Sorge um Delta-Variante: Warum es keinen Lockdown mehr geben soll
Armin Laschet fühlt sich zu Unrecht als Lockerer hingestellt. Er, und alle anderen bis zur Kanzlerin, sehen eine neue Lage. Auch bei hohen Inzidenzen.
Niemand hat mehr die Absicht, noch einen Lockdown zu verhängen. Aber es gibt auch keine klare Linie, um dem noch gezielter vorzubeugen, vor allem das stockende Impftempo bereitet Sorgen. Laut Bundesgesundheitsminister Jens Spahn wurden am Sonntag so wenige Menschen in Deutschland geimpft wie zuletzt im Februar. "Es bleibt dabei: Bitte impfen lassen", betont er.
Wie wenig sich das Corona-Thema für den Wahlkampf eignet, wird gerade am Beispiel Armin Laschet deutlich. Nordrhein-Westfalen hat weitgehende Lockerungen, wie die Aufhebung aller Kontaktbeschränkungen, das Zulassen von Volksfesten und das Öffnen von Discos beschlossen. Aber nur für Kreise und kreisfreie Städten, die seit mindestens fünf Tagen eine 7-Tage-Inzidenz von 10 Neuinfektionen je 100 000 Einwohnern oder weniger aufweisen.
Diese Einschränkung wird oft weggelassen, unter dem Begriff „LaschetWelle“ schieben Grünen- und Linken-Politiker im Netz dem Ministerpräsidenten und Unions-Kanzlerkandidaten die Verantwortung für mögliche weitere Corona-Tote zu.
Dabei bleibt es zum Beispiel selbst in diesen NRW-Niedriginzidenzgebieten bei der Maskenpflicht an Schulen – und der dortigen Testpflicht.
Auch die meisten anderen Bundesländer (Bayern ist etwas zurückhaltender) setzen den behutsamen Öffnungskurs, trotz der Deltavariante fort; aus zwei Gründen: Durch die Impfungen sinkt das Risiko schwerer Verläufe rapide, und das Hauptargument von Kanzlerin Angela Merkel für den Lockdown war immer: Eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Aktuell sind bundesweit nur noch 435 Menschen in intensivmedizinischer Behandlung.
Letztlich tritt man nun in de Phase ein: Mit dem Virus leben. Wenn sich dank des Impfschutzes das Virus in Richtung einer Art Grippe entwickeln sollte, wie es einige erwarten, würde es die Situation deutlich ändern.
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Spahn will weg von der reinen Inzidenzbetrachtung
Schon jetzt wächst auch in der Politik der Druck, nicht mehr allein auf die Infektionszahlen, also die Inzidenzen, zu schauen, sondern vor allem den Grad der schweren Fälle, die in Krankenhäusern behandelt werden müssen, stärker zu gewichten.
Künftig soll nach dem Wille von Jens Spahn (CDU) zusätzlich die Zahl der coronabedingten Krankenhaus-Einlieferungen stärker berücksichtigt werden, wie das Bundesgesundheitsministerium am Montag mitteilte.
Dieses zusätzliche Kriterium könnte praktische Auswirkungen haben bei der Frage weiterer Lockerungen oder Verschärfungen der Corona-Maßnahmen. Da immer mehr Menschen in Deutschland gegen Corona immunisiert sind, werden die schweren Verläufe seltener. Dadurch büßt das Virus bei dieser - immer größer werdenden - Personengruppe deutlich an Gefährlichkeit ein.
Spahn unterzeichnete eine neue Verordnung, die die Kliniken ab diesen Dienstag dazu verpflichtet, mehr Details zu Covid-Patienten zu übermitteln. „Da die gefährdeten Risikogruppen geimpft sind, bedeutet eine hohe Inzidenz nicht automatisch eine ebenso hohe Belastung bei den Intensivbetten“, so Spahn. „Die Inzidenz verliert zunehmend an Aussagekraft, wir benötigen nun noch detailliertere Informationen über die Lage in den Kliniken.“
Um neue Maßnahmen bis hin zu regionalen Lockdowns zu verhindern, kommt es entscheidend auf eine möglichst hohe Immunisierung an, das Robert-Koch-Institut nennt das Ziel von 80 Prozent der Bevölkerung
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Kein Lockdown mehr bei vierter Welle?
Steigen die Infektionszahlen, greifen nach den jetzigen Regeln bestimmte Verschärfungen in den Bundesländern – eine automatische Rückkehr zur Bundesnotbremse bei Erreichen der 100er-Inzidenz wird von den Ländern abgelehnt - und auch Regierungssprecher Steffen Seibert hat klargemacht, dass die Kanzlerin das so sieht. Es zeigt sich also: Man hat mehr Instrumente und Schutz zur Verfügung, die eine andere, bessere Lage schaffen.
Aus Sicht der CSU wird es keinen neuen Lockdown im Fall einer vierten Corona-Welle geben. „Wenn sich tatsächlich im Herbst erneut eine Infektionswelle aufbauen sollte, gibt es keinen Lockdown-Automatismus mehr“, sagte jüngst Generalsekretär Markus Blume dem Tagesspiegel. „Dank umfassendem Impfschutz und massenhafter Testkapazitäten sollten uns dann andere Möglichkeiten zur Verfügung stehen.“
Sicher, auch der Wahlkampf spielt eine Rolle, nach dem Aufatmen nach dem langen Lockdown, soll es jetzt mit anderen Maßnahmen geschafft werden, so eine Lage zu verhindern. Dazu gehört, mit dem Impfangebot mehr direkt zu den Leuten zu gehen, die Ideen reichen von Impfungen auf Festivals bis hin zu Supermärkten, eine Impfpflicht, auch nicht für Lehrer oder andere Berufsgruppen mit vielen Kontakten ist bisher nicht geplant.
Aber etwa Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) macht deutlich, dass nicht Geimpfte künftig mit mehr Einschränkungen leben müssen als Geimpfte, das fängt schon bei den Quarantänepflichten nach Urlauben in Ländern mit hohen Coronazahlen an. Er verspricht "mehr Freiheit" für vollständig Geimpfte. "Vollständige, unbeschwerte Freiheit gibt es nur mit Impfen. Ohne Impfen keine Freiheit - jedenfalls nicht so in der Form, wie wir es uns vorstellen."
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Laschet will Präsenzunterricht nach den Ferien sichern
Etwas spät, aber immerhin, wollen Bund und Länder nach Laschets Worten aber jetzt noch einmal eine Offensive für Luftfilter für Klassenzimmer starten, bisher gibt es hierfür ein unzureichend angenommenes 500-Millionen-Programm des Bundes. Nachdem das Umweltbundesamt seine kritische Meinung gegenüber den Filtern geändert habe, würden die Länder nun beraten, wie man die Bundesförderung ergänzen könne, sagte Laschet in der ARD. Es müsse das Ziel sein, nach den Schulferien den Präsenzunterricht in den Schulen zu ermöglichen. Nur so erhalte man auch die Bildungschancen von Kindern aus sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen.
Die Situation ist etwas paradox, sie bewegt sich zwischen neuen Verschärfungssorgen – und der Aufhebung aller Einschränkungen wie in Großbritannien, weil diese Welle eben auf andere Grundvoraussetzungen trifft. In Deutschland dürfte es spätestens dann so weit sein, wenn alle ein Impfangebot bekommen haben und alle Impfwilligen den vollen Schutz haben; das könnte im August oder September so weit sein. Aber Merkel hat schon betont. Es braucht ab Herbst zur Sicherheit eine Auffrischungsimpfung.