Gab es Hetzjagden in Chemnitz?: Wie Maaßen die Welt sieht
Der Verfassungsschutzchef nennt Berichte über Hetzjagden in Chemnitz „gezielte Falschinformationen“. Die Behörde sagt, sie prüfe die Vorfälle noch.
Gleich nach den ersten Demos veröffentlichen sie die Videos im Netz. Stolz präsentierten rechte Seiten wie „Heidenauer Wellenlänge“ oder „Roßwein wehrt sich“ Ende August die verwackelten Aufnahmen aus Chemnitz. Sie zeigen Straßenszenen mit Menschenmassen, die sich plötzlich in Bewegung setzen. „Wie die rennen, die Zecken, das gibt’s nicht“, freut sich eine Frau in einem der Videos, als einige rechte Demonstranten losstürmen – offenbar, um Gegner zu verfolgen. In einem anderen Kurzfilm skandieren Demonstranten rechtsextreme Parolen, ihre Stimmen überschlagen sich. „Elendes Viehzeug“, ruft einer, „Frei! Sozial! Und National!“, ist zu hören. „Raus aus unserer Stadt!“
Was diese Bilder wirklich zeigen, darüber gibt es nun Streit. War in Chemnitz ein rechter Mob unterwegs? Gab es Hetzjagden auf Ausländer und Migranten? Journalisten aus Deutschland und aller Welt glaubten: ja. Von „Hetzjagden“ berichteten viele Medien, die „New York Times“ hob Chemnitz sogar auf die Titelseite – und berichtete vom „Mob“ auf der Straße.
Hans-Georg Maaßen, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, ist hingegen skeptisch, ob diese Medienberichte so stimmen. „Es liegen dem Verfassungsschutz keine belastbaren Informationen darüber vor, dass solche Hetzjagden stattgefunden haben“, sagte er am Freitag der „Bild“-Zeitung. Kein Wort verlor der Verfassungsschutzpräsident in dem Interview hingegen zum braunen Netzwerk in der sächsischen Stadt, das von Experten als hochgefährlich eingestuft wird.
Also ich würde ihn rauswerfen. Wenn er reden will, kann er auch in Talkshows Geld verdienen oder ein Buch schreiben. Aber als Geheimdienstchef taugt er nicht.
schreibt NutzerIn lionfood
Maaßen lehnt sich weit aus dem Fenster
Knapp zwei Wochen nach dem ersten rechten Aufmarsch in Chemnitz – am 26. August mit etwa 800 Teilnehmern – reiht sich Maaßen damit in die Reiher derer ein, die die Geschehnisse in Sachsen für aufgebauscht halten. Ähnlich wie bereits Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU), der am Mittwoch in seiner Regierungserklärung gesagt hatte: „Es gab keinen Mob, es gab keine Hetzjagd und es gab keine Pogrome in dieser Stadt.“ Verfassungsschützer Maaßen (55) vermutet hinter den Medienberichten über Chemnitz sogar „gezielte Falschinformationen“, die von einem „Mord“ ablenken sollten. Damit unterstellt der Verfassungsschutzchef, die Presse habe zu den Vorfällen in Chemnitz nicht richtig recherchiert.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz erklärte am Freitagabend in einem im Internet veröffentlichten Statement: „Die Prüfung insbesondere hinsichtlich möglicher "Hetzjagden" von Rechtsextremisten gegen Migranten wird weiter andauern.“ Abgeschlossen sind die Überprüfungen durch die Behörde also noch nicht.
Mit der Verwendung des Begriffs „Mord“ lehnt sich Maaßen weit aus dem Fenster. Die Staatsanwaltschaft Chemnitz hat im Fall des 35-jährigen Daniel Hillig wegen Totschlags ermittelt. Entsprechend ist der Haftbefehl vom 27. August gegen Yousif A. ausgestellt, der mit einem Messer auf den Geschädigten eingestochen haben soll. Der Fall hatte die rechten Proteste ins Rollen gebracht.
Maaßen bezweifelt nicht nur, dass es in Chemnitz kürzlich „Hetzjagden“ gegeben hat. Er glaubt offenbar auch, dass Videos, die Gewalt gegen Migranten dokumentieren, gefälscht sein könnten.
Generalstaatsanwaltschaft Dresden hält Belegvideo für keinen Fake
Das nimmt er offenbar auch von einem Kurzfilm an, der im Internet als „Hase-Video“ bekannt ist und mehr als 300.000 Mal geteilt wurde. In dem Video ist eine Frau zu hören, die sagt: „Hase, du bleibst hier!“ Offenbar versucht sie mit dem Satz ihren Partner davor abzuhalten, sich an einem Angriff auf eine Gruppe Migranten zu beteiligen. Das Video zeigt Schläge und Tritte. Offenbar meinte Maaßen diesen Kurzfilm, als er nun der „Bild“ sagte: „Es liegen keine Belege dafür vor, dass das im Internet kursierende Video zu diesem angeblichen Vorfall authentisch ist.“
Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden hält das Video von einem Übergriff auf Ausländer in Chemnitz für echt. „Wir haben keine Anhaltspunkte dafür, dass das Video ein Fake sein könnte“, sagte Oberstaatsanwalt Wolfgang Klein „Zeit online“. Es werde deswegen für die Ermittlungen genutzt. Er wisse nicht, aufgrund welcher Informationen Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen zu anderen Schlussfolgerungen gekommen sei.
Realer Angriff
Auch nach Recherchen der Webseite „Ze.tt“ zeigt das Video einen realen rassistischen Angriff. Demnach handelt es sich bei einem der Opfer um den afghanischen Flüchtling Alihassan Sarfaraz, der den Fall bereits bei der Polizei angezeigt habe. Der Journalist Patrick Gensing schreibt im #Faktenfinder der „Tagesschau“, es gebe keinerlei Indizien, dass es sich bei dem Video um eine Fälschung handelte. Maaßen nenne keinen einzigen Beleg für seine These. „Und er nennt nicht die vielen Indizien, die für die Echtheit des Materials sprechen.“
Mit seinen Äußerungen über den Begriff „Hetzjagd“ beteiligt sich Maaßen als Behördenchef an einer politischen Debatte – und stellt sich gegen Kanzlerin Angela Merkel (CDU), die bereits von „Hetzjagden“ geredet hatte. Die Generalstaatsanwaltschaft Sachsen, die mehr als 120 Anzeigen im Zusammenhang mit den rechten Demos verfolgt, sieht hingegen keine Belege für „Hetzjagden“. Der Begriff sei ohnehin „ein landläufiger und kein juristischer“, betonte deren Sprecher Wolfgang Klein. Auch die in Chemnitz erscheinende „Freie Presse“ will den Begriff nicht mehr verwenden – und stattdessen „Jagdszenen“ schreiben. „Das soll nichts relativieren, wir wollen aber auch nicht übertreiben“, hieß es aus der Redaktion. Den betroffenen Menschen sei über kurze, nicht über lange Distanzen nachgestellt worden. Es habe sehr wohl Angriffe aus der Demonstration am 26. August heraus auf Migranten, Linke und Polizisten gegeben, aber eben keine „Hetzjagden“. Rechte Blogger wie die frühere DDR-Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld zeigten sich begeistert von dieser Position – und lobten „Freie Presse“-Chefredakteur Torsten Kleditzsch: „Es gibt ihn noch, den Journalisten, der den Mut hat, den Mainstreammedien und der Regierung zu widersprechen.“
André Löscher von der Opferberatung Sachsen findet die Diskussion „absurd“. Mehr als 30 Überfälle habe seine Organisation seit Beginn der rechten Aufmärsche dokumentiert, sagte er dem Tagesspiegel. Ob „Hetzjagd“ oder „Jagdszene“ – für die Opfer von rechter Gewalt sei das egal. „Es geht darum, dass die Menschen weglaufen mussten, um nicht verprügelt zu werden“, sagte er. „Manche haben es geschafft, andere leider nicht.“