Diskussion über Antisemitismus-Doku: Eine unsägliche Debatte mit möglicherweise positivem Effekt
Die Debatte um die umstrittene Antisemitismus-Doku sagt viel darüber aus, wie Fernsehen heute gemacht wird. Und über die Rolle von ARD und ZDF. Ein Gastbeitrag.
Ob es sich bei der umstrittenen Antisemitismus-Dokumentation „Auserwählt und Ausgrenzt“ um einen interessengeleiteten Fall publizistischer Diarrhö oder, wie Michael Wolffsohn meint, um den besten Film aller Zeiten handelt, können und wollen wir nicht beurteilen. Wer sich in diese ideologisch hochgradig befrachtete Debatte hineinziehen lässt, hat schon verloren.
Aber eines macht der erbitterte Streit um Für und Wider völlig unabhängig von seinem konkreten Anlass deutlich: Solche Diskussionen müssen in einer pluralistischen Gesellschaft offen ausgetragen werden. Dass erst ein PR-Gag der „Bild“-Zeitung ARD und Arte dazu zwingen musste, einen im Zuge ihres öffentlichen Auftrags produzierten und finanzierten Film auch tatsächlich zu senden, war für die Öffentlichkeitsarbeit der beteiligten Sender ein kommunikationstechnischer Super-GAU.
Die wochenlange Geheimniskrämerei um einen Film, den keiner kannte, hat dem Image der Sender sicher mehr geschadet als die Entscheidung, offensiv mit einem möglicherweise fehlerhaften Film nach außen zu gehen und den Zuschauern selbst die Beurteilung zu überlassen.
Doch jenseits aller inhaltlichen und formalen Fragen hat der Fall auch eine Komponente, die uns aus Produzentensicht zutiefst beunruhigt. Da hat eine erfahrene und international geachtete Redakteurin des WDR trotz einzelner Bedenken einen Film abgenommen, um gerade diese öffentliche Debatte zu ermöglichen, die jetzt – zeitverzögert – ja auch geführt wird. Und dann wird diese Entscheidung von höherer Stelle noch einkassiert.
Was lehrt uns das? Auch Arte, die einstmals gefeierte Domäne eines widerborstigen, gegen den Strich gebürsteten individuellen Autorenblicks auf die Wirklichkeit, hat inzwischen eine Kehrtwende in Richtung Konsensgesellschaft vollzogen und ist in Verzagtheit verfallen.
Vermurkste Arte-Konstruktion
Das ist nicht zuletzt der von Anfang an vermurksten Arte-Konstruktion geschuldet. Denn der europäische Kulturkanal ist zumindest auf deutscher Seite nie ein eigenständiger Sender geworden, sondern er steht nach wie vor unter der Fuchtel von ARD und ZDF – und von deren Programmbedürfnissen, die sie sich gerne aus dem Arte-Budget mitfinanzieren lassen. Dass diese europäische Umwegfinanzierung des deutschen Fernsehsystems bislang weder von der Politik noch von den Rechnungshöfen kritisiert wird, ist höchst erstaunlich.
Formal mag das ja alles seine Ordnung haben – kein Sender muss einen bestellten Film auch ausstrahlen, so steht das in jedem Produktionsvertrag. Und formal ist auch Arte im Recht, denn „nach Maßgabe von Art. 19.3.5 des Gründungsvertrages“ können die Straßburger Programm-Macher „solche Programme ablehnen, die nicht dem angemeldeten und von der Programmkonferenz angenommenen Programmvorschlag entsprechen“.
Doch was irgendwann vor 25 Jahren einmal formuliert wurde, um einen neuen, experimentierfreudigen Kulturkanal davor zu schützen, dass er nämlich zur Zweitverwertungsschiene des deutschen Fernsehsystems degeneriert, wird jetzt zum Exekutionsbeil gegenüber möglicherweise unliebsamen Produzenten und Inhalten. Zumindest für die Produktionsfirma ist das im vorliegenden Fall glimpflich ausgegangen – der Dokumentarfilm wurde ja abgenommen und voll bezahlt.
Aber es kann auch ganz anders kommen. Was schützt ein Produktionsunternehmen beim nächsten Mal davor, dass Absprachen mit der zuständigen Redaktion plötzlich nicht mehr gelten, dass willkürlich neue Regeln gesetzt werden und dass eine Vertragsklausel greift, die standardmäßig in jedem Fernsehproduktionsvertrag steht und die dem Produzenten die gesamte Produktionsverantwortung aufbürdet?
Produktionsrisiko von sich abwälzen
Eine Klausel, die es dem Sender ermöglicht, den bestellten Film am Schluss abzulehnen – und damit alle weiteren Zahlungen für diese Produktion einzubehalten. Leider ist das keine Schwarzmalerei, sondern ein Szenario, das Fernseh-Auftragsproduzenten schon viel Geld gekostet hat. Auch wenn es ihnen in den meisten Fällen am Ende noch gelingen sollte, den Auftrag irgendwie zu retten: Immer wieder machen unvorhersehbare und zudem oft ziemlich ungenau formulierte Änderungswünsche der Sender zusätzliche Dreh- und Schnitt-Tage erforderlich, die nicht kalkuliert sind – und die deshalb auch nicht bezahlt werden. Das ist bitter, besonders, wenn man weiß, dass ein großer Teil dessen, was man an dokumentarischen Filmen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu sehen bekommt, von den Sendern von vorneherein nicht kostendeckend finanziert wird.
Nur noch ein kleines Beispiel dafür, wie öffentlich-rechtliche Sender in Deutschland das gesamte Produktionsrisiko von sich abwälzen: Jede Produktionsfirma muss vertraglich versichern, dass sie die Mitarbeiter des jeweiligen Projekts angemessen, sprich: tarifgerecht, bezahlt hat. Und sie muss den Sender von allen entsprechenden Ansprüchen und Nachforderungen freistellen.
Wie das gehen soll, wenn in den viel gelobten „Eckpunkten“ der ARD die Arbeitsbereiche Kamera, Schnitt und Ton bei Dokumentarfilmen ausdrücklich von der Tarifbindung ausgenommen werden, wissen vielleicht der Himmel, MDR-Intendantin Karola Wille oder WDR-Chef Tom Buhrow – die Produktionsunternehmen wissen es jedenfalls nicht.
„Für die Gewerke Kamera, Schnitt und Ton wird eine Ausnahme gemacht, um den breiten Anforderungen des Genres von kurzen journalistischen Formaten bis zum abendfüllenden Dokumentarfilm zu entsprechen“, schreibt die ARD. Noch so eine kommunikative Meisterleistung! Mit der gleichen Begründung lassen sich auch die Tariflöhne im Gesundheitswesen aufheben, um den breiten Anforderungen von der Krankenschwester bis zum Chefarzt zu entsprechen. Oder, noch besser, in den Sendern selbst. Dann kriegt der Intendant endlich mal so viel oder so wenig wie der Pförtner. Um den breiten Anforderungen der Beitragszahler zu entsprechen.
So hat die unsägliche Debatte um einen möglicherweise nicht so recht gelungenen Dokumentarfilm am Ende doch ein Gutes – sie führt der medieninteressierten Öffentlichkeit einmal mehr vor Augen, wie das öffentlich-rechtliche Fernsehen mit seinen wahren Programm-Machern, mit den Filmemachern und Produzenten, umgeht.
Der Autor ist Regisseur und Produzent von Dokumentarfilmen sowie Vorsitzender und Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm / AG DOK
Thomas Frickel
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