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Großbritannien wolle nun wieder „volle Kontrolle über seine Grenzen“ ausüben, sagte Innenministerin Priti Patel vor wenigen Tagen.
© AFP/ Denis Charlet

Nach dem Brexit: Wie Großbritannien die Zuwanderung beschränken will

Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen sollen nur noch „die Klügsten und Besten“ aus aller Welt erhalten. In Schottland regt sich der Wunsch nach einem eigenen Visum.

In Großbritannien wird landesweit über die neuen Einwanderungspläne der Regierung gestritten. Boris Johnson wird vorgeworfen, mit dem „Hochziehen der Zugbrücke“ zum Kontinent post Brexit „eine ökonomische Katastrophe“ zu riskieren. Wirtschaftsverbände und Pflegeeinrichtungen schlagen Alarm, weil London vom kommenden Jahr an die Personenfreizügigkeit aufheben und „gering qualifizierten“ Arbeitskräften aus der Europäischen Union den Zuzug ins Vereinigte Königreich verwehren will.
Zugleich hat Johnsons Regierung in den letzten Tagen mehrfach unterstrichen, dass sich britische Unternehmen von 2021 an auf Behinderungen an den Zollgrenzen einstellen müssten, weil der Warenverkehr nicht mehr frei fließen werde.

In Schottland, das 2016 zu 62 Prozent für den Verbleib in der EU stimmte, hat die Ankündigung scharfer Abgrenzung zur Union bereits zu leidenschaftlichen Reaktionen geführt. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon fordert nun, dass Schottland seine eigenen Arbeitsvisen ausstellen darf. Wegen der „besonderen Situation“ ihres Landes, mit sinkender Geburtenrate, rasch steigendem Durchschnittsalter und größerer Abhängigkeit vom Tourismus, wäre ein Übersiedlungsverbot für europäische Arbeitskräfte „das reinste Desaster“ für Schottland, so Sturgeon. Allein im Tourismusgewerbe ist ein Fünftel der Beschäftigten aus EU-Staaten.

Tourismusindustrie, Nahrungsmittelgewerbe, Bauern- und Fischereiverbände und der gesamte Pflegesektor haben sich Sturgeons Ruf nach einem eigenen, großzügiger angelegten „schottischen Visum“ angeschlossen. Unter dem Eindruck des harten Brexit, den Johnson nun offenkundig ansteuert, plädiert inzwischen schon jeder zweite Schotte für schottische Unabhängigkeit.

Aber auch in England und Wales halten viele Verbände die angekündigten neuen Gesetze für „fatal“. Vom britischen Industriellenverband bis zu den großen Gewerkschaften warnen einflussreiche Organisationen vor plötzlich fehlenden Arbeitskräften. Das Gesundheitswesen und die meisten Pflegeeinrichtungen würden ohne weiteres Personal aus der EU in die Knie gehen, prophezeite die Gewerkschaft Unison.

Britische Unternehmen sollen künftig mehr Landsleute ausbilden

Den Regierungsplänen zufolge wird vom nächsten Jahr an alle Freizügigkeit zwischen der EU und Großbritannien aufgehoben. Urlauber sollen zwar weiterhin ohne Visum einreisen können, dürfen aber keine Arbeit antreten und nicht länger als sechs Monate im Land bleiben. Generell werden EU-Bürger Reisenden aus anderen Staaten gleichgestellt.

Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen sollen, nach den Worten von Innenministerin Priti Patel, nur noch „die Klügsten und Besten“ aus aller Welt erhalten. Prinzipielle Voraussetzungen für eine Ansiedlung sind gute Fachausbildung und Englischkenntnisse sowie bestehende Jobangebote, die mindestens 25.600 Pfund im Jahr abwerfen. Einkünfte von 20.500 Pfund an sollen toleriert werden in Fällen, in denen dringender Bedarf an bestimmten Berufen besteht.

„Selbstständige“ wie polnische Klempner oder rumänische Bauarbeiter, die sich „frei“ verdingen wollen, kommen aber künftig nicht mehr ins Land. Künstler, Musiker und Sportler sollen dagegen weiterhin in Großbritannien auftreten und Verpflichtungen eingehen können. Nicht mehr anerkannt werden Personalausweise anderer Nationen. Nur noch Reisepässe werden akzeptiert.

Erstmals seit Jahrzehnten, so sagte es Patel vor wenigen Tagen, werde Großbritannien nun wieder „volle Kontrolle über seine Grenzen“ ausüben. Durch die Beendigung der bisherigen Vorrechte von EU-Bürgern schaffe man auch die „Verzerrung“ der Wettbewerbsbedingungen für Zuwanderungswillige aus aller Welt ab.

Britische Unternehmen müssten nun eben einfach mehr Arbeitskräfte aus dem eigenen Land ausbilden, sagte jetzt die Ministerin. Acht Millionen britische Bürger im Alter zwischen 16 und 64 seien immerhin „wirtschaftlich inaktiv“. Von ihren Kritikern wurde Patel darauf hingewiesen, dass es sich bei diesen acht Millionen vornehmlich um Schüler und Studenten, um Kranke, Langzeitarbeitslose, Frührentner und Personen mit familiären Pflegeverpflichtungen handelt – und dass in Großbritannien nahezu Vollbeschäftigung herrscht, also kein Potenzial an zusätzlichen Arbeitskräften zur Verfügung steht.

Peter Nonnenmacher

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