Der Brexit kommt: Es ist Zeit für einen Neuanfang – für Großbritannien und die EU
Niemand kann wünschen, dass Großbritannien unter dem Brexit zu leiden hat. Dies würde die Fliehkräfte in Großbritannien verstärken. Ein Kommentar.
Am Ende dieser Woche geht nach 47 Jahren ein Kapitel der europäischen Nachkriegsgeschichte zu Ende. Großbritannien, das 1973 der Europäischen Union beitrat, wird in der Nacht von Freitag auf Samstag seine Mitgliedschaft in der Gemeinschaft beenden. Aus 28 EU-Mitgliedern werden 27. Die Gemeinschaft wird ärmer – im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne. Aber der EU bleibt nichts anderes übrig, als aus dem Verlust das Beste zu machen.
Die Briten werden oft als liebenswürdige, wenn auch ein wenig verschrobene Partner beschrieben. Gern wird auch ihr Pragmatismus gelobt. Das ist, wenn es um die EU geht, insoweit richtig, als sich das Vereinigte Königreich in den Jahren der Mitgliedschaft stets für freien Handel im Inneren der Gemeinschaft eingesetzt hat. London hat den europäischen Binnenmarkt, der heute zu den großen Errungenschaften der EU gehört, entscheidend mitgeprägt.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass der Austritt Großbritanniens das Ende einer Partnerschaft besiegelt, die für beide Seiten oft quälend war.
Wenn es um die politischen Aspekte der Integration – beim Aufbau des Schengen-Raums oder einer gemeinsamen Justiz- und Innenpolitik – geht, dann stand London meistens abseits. So gesehen, hat der Austritt sowohl für Großbritannien als auch für die verbleibenden 27 EU-Staaten etwas Befreiendes.
Es bringt nichts, über das Referendum von 2016 zu räsonnieren
Man mag einwenden, dass die Briten 2016 vom heutigen Premier Boris Johnson beim Referendum mit Lügengeschichten über die EU in die Irre geführt wurden. Hätte sich damals eine knappe Mehrheit nicht für, sondern gegen den Brexit ausgesprochen, dann wäre der Gemeinschaft ein unbequemes Mitglied erhalten geblieben. Darüber zu spekulieren, lohnt aber nicht mehr. Der EU-Austritt ist ein Faktum – mit weitreichenden Folgen.
Mit Großbritannien verlässt die zweitgrößte EU-Volkswirtschaft, ein Nettozahler und eine Atommacht die Gemeinschaft. In der Gemeinschaftskasse der EU wird weniger Geld vorhanden sein, in den Gemeinschaftsgremien Londons außenpolitischer Sachverstand fehlen.
Noch gravierender dürften indes für Großbritannien die wirtschaftlichen Folgen des Austritts sein. Johnson mag zwar auf ein weitreichendes Handelsabkommen mit den USA hoffen. Der Preis für ein solches Abkommen könnte aber in einer Abkopplung vom EU-Binnenmarkt liegen. Wenn die britischen Wertschöpfungsketten, die eng mit dem Kontinent verwoben sind, demnächst durch Zollkontrollen unterbrochen wären, könnte das zu empfindlichen Einbußen führen.
Johnson muss das Schottland-Problem mit Finanzhilfen kontern
Dabei kann niemand ernsthaft wünschen, dass Großbritannien unter dem Brexit wirtschaftlich zu leiden hat. Je stärker die negativen Folgen des EU-Austritts auf der Insel zu spüren sein werden, umso größer dürften auch die politischen Fliehkräfte innerhalb des Vereinigten Königreichs werden. Die Schottische Nationalpartei (SNP) will in den kommenden Monaten verstärkt für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum werben. Doch eine Loslösung der EU-freundlichen Schotten von der Londoner Zentrale lässt sich wohl nur vermeiden, wenn Johnson die separatistischen Bestrebungen mit großzügigen Finanzhilfen kontert.
Eine Neuordnung der EU wäre sinnvoll
Großer innerer Druck belastet indes auch die EU. Die Gemeinschaft bleibt zerrissen zwischen Mitgliedern wie Deutschland und Frankreich einerseits, die grundsätzlich ein größeres Maß an politischer Verflechtung wollen, und Ländern wie Ungarn, die ähnlich wie Großbritannien die EU in erster Linie als einen wirtschaftlichen Zusammenschluss sehen und politische Einmischung aus Brüssel ablehnen.
In diesem Zwiespalt wird die Europäische Union nicht auf ewig agieren können. Im Frühjahr soll ein zwei Jahre währender Dialog zur Zukunft der EU beginnen. Es wäre sinnvoll, wenn es dabei keine Denkverbote gäbe. Auch über eine Neuordnung der EU – in einen inneren Kern integrationswilliger Staaten und einen äußeren Ring zurückhaltender Länder – sollte nach dem Weggang der Briten diskutiert werden.