Scheitern der Jamaika-Sondierungen: Wie geht's weiter?
Große Koalition, Minderheitsregierung oder Neuwahlen – welche Optionen es gibt
Eine solche Situation gab es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie. Zwei Monate nach der Bundestagswahl ist wieder völlig unklar, wie eine neue Regierung aussehen könnte. In der Nacht zu Montag waren die Gespräche über ein mögliches schwarz-gelb-grünes Bündnis nach dem Ausstieg der FDP geplatzt. Zugleich schloss die SPD eine Neuauflage der großen Koalition aus. Nach dem Scheitern der Sondierungen kommt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nun eine entscheidende Rolle zu. Denn nur er könnte gegebenenfalls darüber entscheiden, den Bundestag aufzulösen und den Weg für Neuwahlen frei zu machen.
Wie reagiert der Bundespräsident auf das Scheitern der Sondierungen?
Steinmeier hat in seiner kurzen Ansprache im Schloss Bellevue am Montag eindringlich an die Parteien appelliert, doch noch die Bildung einer Regierung zu ermöglichen. „Das ist der Moment, in dem alle Beteiligten noch einmal innehalten und ihre Haltung überdenken sollten“, mahnte der Bundespräsident. Ohne die Möglichkeit von Neuwahlen zu erwähnen, machte Steinmeier deutlich, dass er von dieser Option nichts hält: Die Parteien hätten sich bei der Bundestagswahl um die Verantwortung beworben, und diese Verantwortung könne man „nicht einfach an die Wähler zurückgeben“. Der Bundespräsident will nun Gespräche sowohl mit den an der Sondierung beteiligten Parteien als auch mit anderen Parteien führen. Außerdem kündigte er an, sich mit den Präsidenten von Bundestag, Bundesrat und Bundesverfassungsgericht zu beraten.
Könnte Merkel doch noch eine Regierungskoalition bilden?
Eine Rückkehr der FDP an den Verhandlungstisch gilt nach den gescheiterten Sondierungen als höchst unwahrscheinlich, ganz abgesehen davon, dass auch auf der anderen Seite das Vertrauen in den potenziellen Partner mit dem nächtlichen Eklat schweren Schaden genommen hat. Rechnerisch kommt von den inhaltlich möglichen Regierungsbündnissen nur noch eine große Koalition infrage. Während die Union durchaus zu einer Neuauflage des bisherigen Bündnisses bereit wäre, hat SPD-Chef Martin Schulz noch am Wahlabend einer großen Koalition eine Absage erteilt. Allerdings gab es innerhalb der Partei auch Stimmen, die eine weitere Regierungsbeteiligung befürworteten. Am Montag schloss der Parteivorstand eine solche Möglichkeit allerdings kategorisch aus. In dem einstimmigen Beschluss plädierte die SPD-Spitze für Neuwahlen. Steinmeier betonte wenig später, er fordere von allen Parteien Gesprächsbereitschaft, um die Bildung einer Regierung zu ermöglichen. „Wer sich in Wahlen um politische Verantwortung bemüht, darf sich nicht drücken, wenn er sie in den Händen hält.“ Dies lässt sich als Mahnung nicht nur an die FDP, sondern auch an die Sozialdemokraten verstehen. Sollte die SPD-Führung an ihrer Position festhalten, bliebe der Kanzlerin noch die Möglichkeit einer Minderheitsregierung.
Wie wahrscheinlich ist eine Minderheitsregierung?
Wenn Merkel im ersten und zweiten Wahlgang keine absolute Mehrheit erreicht, könnte sie im dritten Wahlgang mit einfacher Mehrheit gewählt werden. Dann würde sie an der Spitze einer Regierung stehen, die im Bundestag über weniger als die Hälfte der Stimmen verfügt. In anderen europäischen Ländern, beispielsweise in Dänemark, ist eine Minderheitsregierung nicht ungewöhnlich, doch auf Bundesebene gab es ein solches Modell bisher nicht. Allerdings haben Politiker in mehreren Bundesländern diese Option bereits ausprobiert. In Sachsen-Anhalt schloss die SPD 1994 mit den Grünen eine Koalition, die sich von der PDS tolerieren ließ, auch Klaus Wowereit (SPD) führte später für einige Monate eine rot-grüne Regierung, die auf die Stimmen der PDS angewiesen war. Von 2010 bis 2012 stand Hannelore Kraft (SPD) in Nordrhein-Westfalen an der Spitze einer rot-grünen Minderheitsregierung.
Nicht nur wegen der fehlenden Stimmen, sondern vor allem wegen der geplatzten Sondierung erscheint derzeit ein schwarz-gelbes Bündnis kaum realistisch. Einer schwarz-grünen Regierung würden im Bundestag 42 Stimmen zur „Kanzlermehrheit“ fehlen. Käme ein solches Bündnis zustande, wäre es auf die SPD beziehungsweise die FDP angewiesen, um Gesetze durchzubringen. Für jede Abstimmung müsste mühsam eine Mehrheit organisiert werden, die Oppositionsparteien könnten massiven Druck auf die Regierung ausüben. Anstatt sich auf wechselnde Mehrheiten einzulassen, könnte sich eine Minderheitsregierung von einer Oppositionspartei tolerieren lassen, müsste dieser also entgegenkommen. Beide Modelle sind wenig wahrscheinlich. „Eine Minderheitsregierung ist nicht in meinen Planungen“, sagte Merkel im ARD-„Brennpunkt“. Wenn auch diese Option vom Tisch wäre, blieben am Ende nur Neuwahlen.
Wie könnte es zu Neuwahlen kommen?
In der Geschichte der Bundesrepublik gab es zweimal vorgezogene Neuwahlen. Im Jahr 1982 verlor Kanzler Helmut Schmidt (SPD) nach einem konstruktiven Misstrauensvotum sein Amt an Helmut Kohl (CDU), 1983 wurde ein neuer Bundestag gewählt. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) führte 2005 mit der Vertrauensfrage Neuwahlen selbst herbei. Den Weg ihres Amtsvorgängers könnte Merkel allerdings nicht gehen. Weil sie nur geschäftsführend im Amt und nicht vom neuen Bundestag gewählt ist, kann sie im Parlament auch nicht die Vertrauensfrage stellen. Damit liegt die Entscheidung über Neuwahlen derzeit allein beim Bundespräsidenten. Allerdings kann selbst das Staatsoberhaupt nicht einfach eine neue Abstimmung ansetzen, das ginge erst nach einer gescheiterten Kanzlerwahl. Wenn also Merkel – oder ein anderer Kanzlerkandidat – in drei Wahlgängen keine absolute Mehrheit erhält, muss der Bundespräsident entscheiden, ob eine Minderheitsregierung gebildet werden oder der Bundestag aufgelöst werden soll. Nach der Auflösung des Parlaments müssen innerhalb von 60 Tagen Neuwahlen stattfinden.
Die Umfragen deuten bisher allerdings nicht darauf hin, dass das Ergebnis einer neuen Bundestagswahl gravierend vom Ergebnis der letzten abweichen würde. Das Grundproblem, wonach außer der großen Koalition nur Bündnisse von mindestens drei Partnern eine Mehrheit organisieren könnten, bliebe wohl bestehen.