25 Jahre Bosnienkrieg: Wie geht’s den Staaten auf dem Balkan?
Vor 25 Jahren begann der Bosnienkrieg – einer der blutigen Konflikte, die das Auseinanderbrechen Jugoslawiens begleiteten. Noch immer sind die Folgen in der Region zu spüren. Ein Überblick.
Eine erste Generation der Staaten Südosteuropas ist inzwischen im Frieden aufgewachsen. Doch die meisten Nachkriegsgesellschaften sind noch Rekonvaleszenten. Josip Broz Titos blockfreies Jugoslawien war ein relativ liberaler, sozialistischer Staat. Es gab Reisefreiheit, das Bildungsniveau war hoch, viele der Betriebe in Arbeiterselbstverwaltung waren ökonomisch erfolgreich und Millionen westlicher Touristen strömten an die Strände an der Adria.
Nach Titos Tod 1980 drangen Nationalisten in das Machtvakuum ein, am stärksten in Serbien und Kroatien. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs verlor man außerdem in West wie Ost das Interesse an Wirtschaftskooperation. Veraltete Industrie und politische Zerwürfnisse bereiteten den Boden für die Zerfallskriege mit, allen voran betrieben von Serbiens Machthaber Slobodan Milosevic. In dessen Zerfallskriegen kam es zu „ethnischen Säuberungen“ und Kriegsverbrechen, vom UN-Tribunal für Ex-Jugoslawien in Den Haag tausendfach belegt. Mit dem Friedensabkommen von Dayton vom Dezember 1995 endete der Bosnienkrieg, der am 6. April vor 25 Jahren begonnen hatte. Schließlich beendete die UN-Resolution 1244 vom 10. Juni 1999 den letzten der Zerfallskriege, den 1998 begonnenen Krieg Serbiens gegen dessen Teilrepublik Kosovo.
Inzwischen erfahren Teile des früheren Jugoslawien bescheidenen ökonomischen Aufschwung, doch der ökonomische wie der demokratische Fortschritt sind gefährdet. Bei einer Arbeitslosigkeit junger Leute von teils bis zu 70 Prozent sehnt sich die Mehrheit laut Umfragen nach Auswanderung. Schulbücher reproduzieren fast überall nationalistische Vorkriegsmythen. Armut, Korruption, Kleptokratie, Nepotismus, ethnisch instrumentalisierte Nationalismen und zunehmend auch islamistischer Fundamentalismus bedrohen den sozialen Frieden der westlichen Balkanstaaten.
Langfristig gibt es nur die Perspektive des Beitritts zur Europäischen Union, der Slowenien und Kroatien bereits angehören. Mit sechs Staaten schloss die EU Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen: mit Mazedonien (2004), Albanien (2009), Montenegro (2010), Serbien (2013), Bosnien-Herzegowina (2015) und mit dem Kosovo (2016). Bosnien-Herzegowina steht wie der Kosovo de facto heute unter EU-geführter internationaler Verwaltung, die Milliarden kostet, ohne dass der Geldsegen bei der Bevölkerung ankommt. Schleppender Fortschritt und die aktuelle Krise der EU dürfte die Anwärterphase der Balkanstaaten verlängern. Ein Überblick über die heutige Situation der Balkanstaaten.
Slowenien - Musterland der Region?
Zwar slawisch, aber kulturell mit einem Hauch Italien, administrativ mit einer Portion Österreich ausgestattet, so stellt sich Slowenien vor. Damals, im jugoslawischen Länderfinanzausgleich, sah sich das wohlhabende Slowenien ausgeplündert und brach bereits im Sommer 1991 aus der Föderation. Nach zehn Tagen Krieg gab die Jugoslawische Volksarmee auf, Slowenien erlangte Unabhängigkeit und wurde 2004 Mitglied der EU wie der Nato.
Auch wenn die Popformation „Laibach“ und der wilde Intellektuelle Slavoj Zizek (und Melania Trump, die Ex des Präsidenten) von hier stammen, die Mehrheit denkt pragmatisch demokratisch. Mit 1020 Euro netto ist das monatliche Pro-Kopf-Einkommen das höchste in Ex-Jugoslawien. Ein Muster für die anderen könnte Slowenien abgeben.
Kroatien - Mehr Gestern oder mehr Heute?
Mit dem Glück des Last-Minute-Buchenden wurde das Land 2013 zum 28. Mitglied der EU, kurz ehe die Brüsseler Tore vorerst zugezogen wurden. 2009 war Kroatien der Nato beigetreten. Erholt haben sich Teile des Tourismussektors und der Industrie, doch wurde erst vor Kurzem der ökonomische Vorkriegsstandard von 1989 erreicht. Unter den 15 Prozent Arbeitslosen ist knapp ein Drittel zwischen 15 und 24 Jahre alt.
Reformen schleppen sich hin, während streitende Koalitionen wie die aktuelle aus der rechtsnationalistischen HDZ und der Mitte-Rechtspartei MOST einander blockieren. Klagen über alte Seilschaften und Vetternwirtschaft sind so endemisch, wie die Zuversicht in die EU als Allheilmittel seit der Mitgliedschaft abgenommen hat. Ein Land zwischen Verdrängung, Politfolklore und Hoffnung auf Modernisierung.
Bosnien-Herzegowina - Wer bedroht den Zusammenhalt?
Mehr Sorgen bereitet kein anderes Land in der Region. Damit die Konfliktparteien das Abkommen zum Frieden unterschreiben, ging man 1995 folgenreiche Kompromisse ein. Entlang „ethnischer“ Linien entstanden eine bosnisch-kroatische Föderation und die Republika Srpska, die Serbenrepublik, die zunehmend von Abspaltung spricht. Bosniaken (Muslime), Kroaten (mehrheitlich Katholiken) und Serben (mehrheitlich serbisch-orthodox) gründeten „ethnische“ Parteien, 13 Parlamente haben 150 Ministerposten. Wer keiner der „Ethnien“, sprich Machtcliquen, angehört, bleibt politisch chancenlos.
Rund die Hälfte aller jungen Leute würde am liebsten auswandern. Eine verfehlte Strategie der Privatisierung verwandelte die ohnehin teils marode Wirtschaft in Brachland. Islamistische Akteure aus der Türkei wie dem Mittleren Osten sind hier unterwegs. Die internationale Verwaltung in Sarajewo, die nominell Vetorechte besitzt, schreitet nicht einmal ein, wo an inzwischen fast 60 Schulen muslimische und katholische Schulkinder getrennte Eingänge und Klassenräume haben.
Serbien - Wohin fährt der Zug?
Mitte Januar 2017 inszenierte Serbien eine Provokation, die seinen Zustand symbolisiert. Ein in Russland hergestellter Zug, auf dem in Riesenlettern „Kosovo ist Serbien“ stand, sollte aus Belgrad nach Nordkosovo rollen, wo mehrheitlich Serben leben. An der Grenze konnte er noch gestoppt werden. Brüssel gegenüber kleidet sich Serbien demokratisch, real trägt das Land ein anderes Gewand.
Regierungschef Aleksandar Vucic, einst Milosevics Propagandaminister, hofiert Moskau und will mit serbisch-russischen Militärmanövern Kroatien beeindrucken. Populisten und Nationalisten vergiften das politische Klima. Die EU drückt beide Augen zu: Serbien soll uns Flüchtlinge vom Leib halten. Am Sonntag wurde ein neuer Präsident gewählt. Der haushohe Favorit Vucic wurden den Erwartungen gerecht: Nach ersten Hochrechnungen stimmten 58 Prozent der Wähler für ihn. Damit ist dem EU-freundlichen Politiker schon nach der ersten Runde das Präsidentenamt sicher.
Kosovo - Teurer Stillstand?
Auch der Kleinstaat Kosovo, der 2008 seine Unabhängigkeit von Serbien erklärte, ist voller Extreme und Widersprüche. Offiziell verwaltet von 2000 Entsandten der millionenteuren EU-Mission „Eulex“, die Staatsanwaltschaft wie Richter stellt, wird es korrupt regiert von einem einstigen Befehlshaber der Befreiungsarmee UCK. Im Zentrum der Hauptstadt Prishtina erhebt sich drei Meter hoch eine Bill-Clinton-Skulptur auf dem Boulevard seines Namens.
Pluspunkt des Landes ist eine mit Zeitungen wie „Koha Ditore“ und „Zeri“ freie, kritische Presse. Für Migrationsdruck sorgen Armut und die enorme Arbeitslosigkeit. 111 der 193 UN-Mitglieder haben bisher die Staatlichkeit des Kosovo anerkannt – auch fünf EU-Staaten fehlen noch: ökonomischer Stillstand, politischer Wartestand.
Mazedonien - Wann endet das machtpolitische Tauziehen?
„Brauchen neue Regierung dringend für Reformen. Keine Zeit zu verlieren.“ So fasste EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn seine Eindrücke in einen Tweet, als er am Dienstag die Hauptstadt Skopje besuchte. 50 000 Protestierende waren gegen den sozialdemokratischen Plan auf die Straße gezogen, Albanisch, gesprochen von etwa einem Drittel der Bevölkerung, zur zweiten Amtssprache zu machen.
Seit die Sozialdemokraten unter Zoran Zaev im Dezember 2016 mit 67 Sitzen die Mehrheit im Parlament gebildet haben, weigert sich Präsident Gjorge Ivanov, sie mit der Bildung einer Regierung zu beauftragen. Er wirft Zaev vor, „Mazedoniens Souveränität“ zu untergraben. Nervenkrieg und machtpolitisches Tauziehen bestimmen das Bild. Der EU liegt an Stabilität, nicht zuletzt, da sie Mazedonien in der Flüchtlingskrise als Pufferzone zu Griechenland nutzen will.
Montenegro - Blick nach Moskau oder Brüssel?
Seit 2002 wird hier mit Euro bezahlt. Damals beschloss der kleinste Balkanstaat, noch Teil von „Serbien und Montenegro“, die neue Währung zeitgleich mit EU-Mitgliedern zu adoptieren. Ein Jumbojet randvoll mit Münzen und Scheinen soll von Frankfurt am Main nach Podgorica geflogen sein. Solche Kühnheit ist typisch für den Staat, der sich aus den Zerfallskriegen heraushielt und 2006 für die Unabhängigkeit von Serbien stimmte.
Ab 1991 regierte die meiste Zeit, EU-zugewandt, der Sozialdemokrat Milo Djukanovic. Der dominanten Elite um den Staatsmann wird Korruption nachgesagt. In die Wahlen Ende 2016 soll sich Moskau an der Seite pro-russischer Serben massiv eingemischt haben. Die Rede war von Putsch- und Mordversuchen. Neuer Premier wurde, mit knapper Mehrheit, Djukanovics Parteikollege Dusko Markovic. Für 2017 wird der Beitritt zu Nato erwartet.
Albanien - Was will der prowestliche Adriastaat?
Albanien, in Westeuropas Fantasie lange als Karl Mays „Land der Skipetaren“ bekannt, gab sich nach der abgeschotteten Diktatur Enver Hodschas (1944-1985) eine demokratische Verfassung. Das Land gehörte nicht zu Jugoslawien, doch der verarmte Adriastaat nahm 1999 rund 435.000 Flüchtlinge aus dem Kosovo auf – und geriet damals auf die Landkarte des Westens. Wirtschaftshilfen und EU-Perspektive folgten, 95 Prozent der Bevölkerung begrüßten den Nato-Beitritt 2009.
Angemahnt wird aus Brüssel die weitere Justizreform und das Bekämpfen der Korruption. Als der charismatische Ministerpräsident Edi Rama Anfang März 2017 in Berlin zu Gast war, forderte er, die EU-Perspektive aufrechtzuerhalten. „Die Leute sähen sich sonst betrogen.“ Das berge die Gefahr der Hinwendung zu anderen, etwa Richtung Moskau. (mit Reuters)
Weiterführende links zum Thema:
International / Basismaterial
Friedensabkommen von Dayton zum Beenden des Bosnienkrieges 1995:
http://www.osce.org/bih/126173
UN-Resolution 1244 zum Beenden des Kosovokrieges 1999:
http://www.un.org/depts/german/sr/sr_99/sr1244.pdf
UN-Tribunal für Ex-Jugoslawien in Den Haag. Umfangreicher Dokumentation sämtlicher Prozesse. Live-Stream aktueller Verfahren.
Juristische Berichte und Kommentare zu Kriegsverbrecherprozessen:
Aktuelle Politik
Balkan Investigative Network (BIRN). Exzellente, unabhängige Quelle zu aktuellen und zeithistorischen Entwicklungen.
http://birn.eu.com/en/page/home
Referat Mittel- und Osteuropa der Friedrich-Ebert-Stiftung
https://www.fes.de/de/referat-mittel-und-osteuropa/
Berliner Balkan, Kulturprogramme
Südosteuropa Kultur e. V. Diskussionen, Lesungen, Kunst und Musik aus allen Teilen des früheren Jugoslawien
South East European Film Festival (25. – 28. Mai 2017 in Berlin)