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Der (noch) amtierende und sein designierter Nachfolger: Klaus Wowereit (l.) und Michael Müller.
© dpa

Michael Müller beerbt Klaus Wowereit: Wie geht es jetzt weiter für Berlin?

Einst stürzten sie ihn, jetzt verlieren Raed Saleh und Jan Stöß haushoch gegen Michael Müller. Der Stadtentwicklungssenator regiert bald die Hauptstadt – und dürfte weiter mit seinen Rivalen zusammenarbeiten.

Berlins SPD steckt im Nebel. Grau hängt der Dunst am Samstagmorgen über der Parteizentrale, dem sechsstöckigen 60er-Jahre-Zweckbau an der Müllerstraße in Berlin-Wedding. Um 8.30 Uhr nähert sich ein gelber Transporter der Post und hält an der Straßenecke wenige Meter vor dem Eingang zum Kurt-Schumacher-Haus. Der Fahrer öffnet gemeinsam mit dem SPD-Landesgeschäftsführer die verplombten Türen, in dem Fahrzeug steht ein Gitterwagen mit rund 50 gelben Postkisten, ein gutes Dutzend Genossen greift zu und schleppt die Kisten hinein in die Parteizentrale und hinauf in den zweiten Stock, wo zwei Tagungsräume und ein Flur in ein improvisiertes Wahlzentrum verwandelt wurden.

Verteilt auf 11136 Wahlbriefe findet sich in den gelben Postkisten die Antwort auf die Frage, die seit der Rücktrittsankündigung von Klaus Wowereit am 26. August weit über die Stadt hinaus diskutiert wird: Wer regiert Berlin? Knapp sechs Stunden später hat sich der Nebel über der Stadt gelichtet – und die rund 60 Wahlhelfer der SPD haben eine Antwort aus den Briefen herausdestilliert: Müller macht’s. Und mit was für einem Ergebnis! 59,1 Prozent der Stimmen entfielen auf den einstigen Partei- und Fraktionschef, der seit 2011 Senator für Stadtentwicklung ist – deutlich mehr, als die meisten Beobachter erwartet hätten.

Die Herausforderer scharen sich um den Sieger

Seine Herausforderer, Parteichef Jan Stöß und Fraktionschef Raed Saleh, landeten abgeschlagen bei 20,9 respektive 18,7 Prozent. Und scharen sich sogleich um den Sieger, um zu erklären, dass man von jetzt an geschlossen kämpfe, um gemeinsam in zwei Jahren die nächste Berliner Wahl zu gewinnen. Was bleibt ihnen sonst übrig? Kurz nachdem das Ergebnis in aller Deutlichkeit klar ist, erscheint Saleh vor dem Kurt-Schumacher-Haus. „Wir haben einen Regierenden Bürgermeister. Er erhält meine volle Unterstützung“, spricht der Fraktionschef in viele Mikrofone. Das Wort Loyalität kommt bei ihm an diesem Nachmittag mehrfach vor. „Wer mich kennt, weiß, dass ich loyal bin.“ Oder: „Wenn ich eines bin, dann bin ich loyal.“ Und Müller könne sich natürlich auch auf die „Loyalität der Fraktion“ verlassen. Saleh wirkt sehr aufgeräumt. Sein eigenes Ergebnis trage er „mit Fassung“. Das sei eben Demokratie. Nun wolle er mit Müller die Probleme der Stadt angehen. „Es ist der Tag des Regierenden Bürgermeisters.“

So fielen die Stimmen der SPD-Mitglieder aus.
So fielen die Stimmen der SPD-Mitglieder aus.
© TSP

Trotz seines schlechten Abschneidens hat Saleh an Macht offensichtlich nichts verloren. Er ist und bleibt Fraktionschef. Und es gibt niemanden in der Fraktion, der ihm seine Position streitig machen würde. Das ist auch am Sonnabend erkennbar, als sehr viele Fraktionsmitglieder erscheinen und Saleh ihre Unterstützung bekunden. Der Dritte im Bunde, Jan Stöß, hätte sicherlich auch auf ein besseres Ergebnis gehofft. Ob er nun in den Senat wechselt – möglicherweise als Arbeitssenator oder sogar als Finanzsenator –, ist völlig offen. „Solidarisch und fair“ seien die drei Kandidaten miteinander umgegangen, sagt er nach der Verkündung des Resultats. „Wir werden zusammenstehen und gemeinsam kämpfen.“ Und derjenige, der Müller als Parteichef im Juni vor zwei Jahren ablöste, gratulierte seinem Vorgänger. „Herzlichen Glückwunsch an Michael Müller. Das ist der erste Satz.“ Die SPD habe gezeigt, dass sie solidarisch kämpfen könne. Das habe sich auch in der „hohen Wahlbeteiligung“ beim Mitgliedervotum niedergeschlagen. Nun ja, es waren 64,77 Prozent.

Im Angesicht des Erfolgs gibt sich Müller gerührt

Michael Müller kommt derweil aus dem Lächeln nicht mehr heraus. Er steht zwischen Jan Stöß und Raed Saleh und ist gerührt, als ihm Barbara Loth, Leiterin der Auszählung, einen Blumenstrauß überreicht. Als Stöß Müller im Juni vor zwei Jahren als Parteichef ablöste, vergaß die Partei, dem scheidenden Landesvorsitzenden als Dank für seine Arbeit auf dem Parteitag Blumen zu überreichen. Umso mehr ist Müller, blaues Hemd, dunkler Anzug, im Angesicht des Erfolgs gerührt. „Ich bin ganz platt. Das ist ein tolles Ergebnis, mit dem ich nicht gerechnet habe“, sagt der designierte Nachfolger von Klaus Wowereit. Das Votum sei ein „großer Vertrauensbeweis“. Nun müsse die SPD alles daransetzen, 2016 die „führende Kraft“ der Stadt zu bleiben.

Stöß erinnert an den Kleinen Parteitag der CDU vom vergangenen Montag. CDU-Parteichef und Innensenator Frank Henkel hatte da von den „drei Musketieren“ gesprochen. Dieses Bild wolle er gern aufnehmen. „Alle für einen, einer für alle. Das ist Michael Müller“, sagt Stöß pathetisch. Und soweit er wisse, hätten die Musketiere auch immer gewonnen. Saleh, Müller, Stöß – sie versuchen, ein Bild der Einigkeit auszustrahlen. Und dann herzt Müller die beiden Genossen. Ob der Wowereit- Nachfolger die bittere Niederlage vergessen kann, die ihm Stöß und Saleh zugefügt hatten? Müller grinst bei der Frage. „Ich habe nichts aufzuarbeiten.“ Und sein Grinsen wird noch breiter.

Mehrmals stand Müller vor dem kompletten Aus

Drei Musketiere. Die klare Wahl von Michael Müller zum neuen Regierenden war für die Öffentlichkeit überraschend.
Drei Musketiere. Die klare Wahl von Michael Müller zum neuen Regierenden war für die Öffentlichkeit überraschend.
© dpa

Wer hätte das gedacht? Mehrmals stand Müller in den vergangenen Jahren vor dem Rücktritt, schien ein Berliner Auslaufmodell zu sein. Und ausgerechnet er wird jetzt Wowereits Nachfolger? Da haben ihn wohl manche unterschätzt – nicht zum ersten Mal. Vielleicht liegt’s daran, dass der kleine, fast zierlich wirkende Mann in den vergangenen Jahren einige herbe Niederlagen einstecken musste. Vor gut zwei Jahren verlor er den Posten des SPD-Landesvorsitzenden an Stöß – der mit Salehs Hilfe die Abwahl organisiert hatte.

Ein Amt, das er jetzt übrigens nicht mehr beansprucht, wie Müller nun sagt. Seine wohl schwerste politische Niederlage erlebte er im Mai dieses Jahres, als die Berliner ihm das Vertrauen entzogen für seine Baupläne auf dem Tempelhofer Feld. Da stand er kurz vor dem Rücktritt – wie bereits vier Jahre zuvor, als die Verlängerung der Stadtautobahn A100 beim SPD-Parteitag auf der Kippe stand.

Auch in letzter Zeit gab es immer wieder Querschüsse auch aus der eigenen Partei gegen seine Arbeit als Stadtentwicklungssenator, die dem stillen Familienvater Müller das Berufsleben nicht erleichterten. Vorbei – wenn auch nicht vergessen. Zu seinem Ruf gehört es, verletzlich zu sein, zum „Schmollen“ zu neigen, wie jene sagen, die ihn genauer kennen. In weicher Schale sitze ein harter Kern, der sich gelegentlich in beißendem Sarkasmus Ausdruck verschafft, wenn ihm etwas missfällt, sagen andere.

Vor allem aber gilt der gelernte Drucker mit kaufmännischer Lehre als zäher, korrekter Arbeiter. Als seriöser Aktenleser, der nicht gerade mit großen Ideen glänzte, aber viele Jahre an wichtigen Stellen dazu beitrug, dass es im Abgeordnetenhaus stabile Mehrheiten gab, dass Klaus Wowereit politisch der Rücken freigehalten wurde und dass – in seinen knapp drei Jahren als Senator – Berlin seine Gesetze zu Gunsten von Mietern langsam änderte, eine neue Liegenschaftspolitik mit sozialem Anspruch einführte und ein Fonds für billigere Mietwohnungen aufgelegt wurde.

Kann sich Müller nun von Wowereit emanzipieren?

Nun wird sich zeigen, wie lange der 49-Jährige braucht, um sich vom Ruf des trockenen Partei- und Sacharbeiters im Schatten seines langjährigen Weggefährten Wowereit zu emanzipieren und an der Spitze der Landesregierung ein eigenes, neues Profil zu entwickeln. Als kleinen Vorgeschmack hat er in den vergangenen Wochen schon mal vorgeführt, dass er entgegen anderslautenden Behauptungen auch zu Humor fähig ist. So bekam Müller kürzlich beim letzten SPD-Mitgliederforum viel Applaus, als er auf einen Tagesspiegel-Artikel Bezug nahm, der ihm attestierte, er kokettiere mit seinem fehlenden Glamourfaktor. Müllers Replik: „Ich kokettiere nicht, das ist so.“

So muss man wohl auch seine Bemerkung nach Ende der gestrigen Wahlauszählung verstehen. Befragt, was er am Samstagabend noch macht, zur Feier dieses vorläufigen Höhepunkts seiner politischen Laufbahn, da sagt er: „Ein kleines Bier trinke ich heute schon noch.“ Mit Müllers Wahl endet, zumindest vorläufig, ein einzigartiges Experiment in Sachen Parteiendemokratie. 17200 Berliner Sozialdemokraten hatten es in der Hand, wer die Hauptstadt mit ihren 3,5 Millionen Einwohnern bis zur nächsten Abgeordnetenhauswahl im Herbst 2016 regiert.

„Eine schwierige Wahl“, war von manchem Sozialdemokraten zu hören. Vielleicht ist es so zu erklären, dass ein gutes Drittel der Berliner Genossen sich schlicht weigerte, den nächsten Regierenden Bürgermeister mitzubestimmen? So kam es, dass Müller nun mit 6353 Stimmen neuer Regierender Bürgermeister wird – während Saleh nur 2008 Stimmen bekam und Stöß 2244. Nur zwei von drei Wahlberechtigten haben von ihrem Privileg Gebrauch gemacht – bei der Bundestagswahl im vergangenen Jahr gaben 72,5 Prozent der Berliner ihre Stimme ab. Zu denen, die nun bei der SPD mitstimmten, gehörte ganz sicher auch Klaus Wowereit. Mit dem Ergebnis war er jedenfalls nicht unzufrieden. Auf die Frage, ob Müller auch seine erste Wahl gewesen sei, antwortete er in einem Fernsehinterview trocken und eindeutig: „Ja.“

Der Wahlkampf innerhalb der SPD nahm zum Schluss Fahrt auf

Immerhin, die drei Kandidaten gaben sich zumindest gegen Ende ihrer Werbetour durch die Stadt wirklich Mühe, sich als unterscheidbar zu präsentieren und ihren Parteifreunden das Gefühl zu geben, dass es sich auch lohnt, abzustimmen. 14 Mal sind sie in Podiumsdiskussionen aufeinandergetroffen, haben anfangs freundlicher und gegen Schluss kämpferischer über ihre Pläne für Berlin diskutiert. 14 Begegnungen, in denen zwar inhaltlich nicht viel Neues herauskam, in denen sie aber deutlich gemacht haben, dass jeder für einen anderen Politikstil steht – Müller als sachlicher Verwalter und Bewahrer des bisherigen Senatskurses, Saleh als impulsiver Erneuerer mit einem großen Ohr für die Sorgen der kleinen Leute, und Stöß als linker Reformer, der sich als Einziger offen über den Rückzug von Finanzsenator Ulrich Nußbaum freut und nach Jahren des Sparens endlich wieder mehr investieren will.

Vor allem aber waren es 14 Begegnungen, in denen keiner der drei sich den Weg zu den beiden anderen wirklich verbaut hätte – sie sind Profis genug, um zu wissen, dass sie auch nach dem heutigen Wahlergebnis weiter aufeinander angewiesen sind. Zum einen haben Fraktion, Partei und Senats- Sozialdemokraten kaum eine andere Wahl, als pragmatisch miteinander zu arbeiten. Zum anderen wollte sich auch keiner der drei ins politische Aus manövrieren: Mit der Wahl eines neuen Regierenden Bürgermeisters durch das Abgeordnetenhaus am 11. Dezember sind neue Posten zu vergeben.

Der größte Verlierer an diesem Tag ist wohl Stöß: Ein Parteichef, der nur von einem von fünf Mitgliedern der eigenen Vereinigung unterstützt wird, kann eigentlich einpacken. Stellt er nun sein Amt zur Verfügung?

Zumindest kurz vor der Bekanntgabe des Ergebnisses will der Parteichef darüber nicht spekulieren. Stattdessen sinniert er lieber allgemein über das Votum. „Es war gut, dass es ein fairer Wettbewerb war. Davon hat die ganze SPD profitiert.“ Ganz so fair, wie Stöß glauben machen möchte, war dieser „Wettbewerb“ nicht: Gerüchte wurden gestreut, dass der eine Kandidat gar nicht mit dem anderen kann, dass aus der gemeinsamen Allianz von Saleh und Stöß gegen Müller als Parteichef im Jahr 2012 eine parteipolitische Gegnerschaft wurde.

Das sah eine Weile tatsächlich so aus. Als Stöß im Zuge der Steueraffäre um den Ex-Kulturstaatssekretär André Schmitz auch massiv Druck auf Wowereit ausübte, formierte sich mit dem Fraktionschef Saleh an der Spitze eine Phalanx gegen Stöß. Die Rechnung ging nicht auf. Saleh hätte es in der Hand gehabt, mit den 47 SPD-Fraktionsmitgliedern Wowereit zu stürzen, doch er hielt zu Wowereit – und Stöß zog sich endgültig den Ärger von Wowereit zu.

Stöß und Saleh sind Machtmenschen

Doch Stöß und Saleh sind Machtmenschen und können taktische Allianzen schmieden, wenn es opportun erscheint. Als die drei Kandidaten kürzlich beim letzten Mitgliederforum gefragt wurden, wie sie ihren Politikstil beschreiben würden, sagte Stöß: „Zuhören, Anpacken, Durchsetzen.“ Raed Saleh antwortete: „Anpackend, loyal, hartnäckig“. Und Müller sagte: „Zuhören, ernsthaft Probleme angehen, entscheiden und umsetzen.“ Mit den letzten beiden Verben hob sich Müller von Saleh und Stöß ab, die bisher in keiner Regierungsverantwortung waren.

Für viele Sozialdemokraten, die sich nach der durch Wowereits Schritt ausgelösten Unruhe nach einer funktionierenden Regierung sehnen, mag das den Ausschlag gegeben haben. „Natürlich habe ich für Müller gestimmt“, sagte ein Sozialdemokrat an der Weintheke beim SPD-Mitgliederforum. „Der ist einfach der seriöseste der drei und ist für das Amt von seiner Erfahrung her am besten geeignet.“ Und ein Parteifreund ergänzt: „Die anderen beiden sind gute Kandidaten – aber in Sachen Kompetenz reichen sie nicht an ihn heran.“ Nach dem gestrigen Ergebnis kann man sagen: Zwei Drittel der Berliner Sozialdemokraten sehen das offenbar ähnlich.

Sabine Beikler, Lars von Törne

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